Liebe Deutsche Popkultur… Wo sind die Frauen?

Gastbeitrag von unserer Autorin LEONIE SCHOLL:

Beyoncé, Taylor Swift und Rihanna haben längst mehr Einfluss auf die gesamte westliche Popkultur als die meisten ihrer männlichen Kollegen zusammen. Warum ist das bei einem weiblichen Act in Deutschland aktuell undenkbar?   Kürzlich wurde es mal wieder überdeutlich, als in Berlin der Preis für Popkultur verliehen wurde.

 

Vergangenen Monat wurde in Berlin zum ersten Mal der „Preis für Popkultur“ verliehen. An sich ist das eine schöne Idee: Statt auf Verkaufszahlen will der Preis sein Augenmerk auf möglichst vielfältige und innovative Acts in Deutschland legen. Ausgezeichnet wird er von einem eigens hierfür gegründeten Verein, der aus verschiedenen Vertretern der Musikbranche besteht. Doch schon im Vorfeld der Veranstaltung kam es zum Eklat: Abgesehen von der Kategorie “Lieblings-Solokünstlerin“ fanden sich unter den Nominierten nur zwei Acts mit offensichtlichem Frauenanteil! Feministische Blogs gingen auf die Barrikaden und Stefanie Sprengnagel, selbst nominiert in der Kategorie „Schönste Geschichte“, boykottierte die Veranstaltung und schob noch einen denunzierenden Facebook-Post hinterher.

 

MC Philipp Grütering widmete sich dem Missverhältnis und stellte bei der Entgegennahme des Preises für Deichkind fest: „Ich würde mich freuen, wenn beim nächsten Mal mehr Frauen dabei wären.“ Beifall aus dem Publikum. Und spätestens an der Stelle musste ich langsam anfangen zu lachen. Denn das Problem ist doch nicht, dass Frauen bei Preisverleihungen in Deutschland zu wenig beachtet werden würden. Das Problem ist doch, dass es in Deutschland gar keine Frauen in der Popkultur gibt! Zumindest keine, die von einer breiten Mehrheit wahrgenommen und als eigenständige Künstlerinnen akzeptiert werden. Und das liegt sicherlich nicht daran, dass es in Deutschland keine kreativen, innovativen Frauen gäbe. Sie werden schlichtweg nicht ausreichend gefördert und ernst genommen. Das ist natürlich kein spezifisches Phänomen der Popkultur: Auch in Politik, Technik und auf Führungsebenen vollzieht sich der Prozess, Frauen als gleichwertige Individuen wahr- und aufzunehmen, noch immer mehr als schleichend. Dennoch scheint mir, dass gerade im Bereich der Musik Deutschland eine bedauernswerte Sonderposition einnimmt. In Skandinavien werden Künstlerinnen wie Björk, Lykke Li oder Robyn seit Jahren als vollkommen ebenbürtig zu z.B. Sigur Rós, Röyksopp oder Kleerup aufgefasst. Da fragt niemand nach irgendeiner Frauenquote oder welche Männer ihnen dabei geholfen haben, so erfolgreich zu werden. Das ist einfach normal. Und im „großen“ Popbusiness ist der Effekt fast noch deutlicher: Beyoncé, Taylor Swift und Rihanna haben längst mehr Einfluss auf die gesamte westliche Popkultur als die meisten ihrer männlichen Kollegen zusammen. Warum ist das bei einem weiblichen Act in Deutschland aktuell undenkbar? Frauen in der Öffentlichkeit haben es grundsätzlich schwerer, daran ist auch nichts schönzureden. Wer einen Eindruck davon haben möchte, mit welchen degradierenden und sexistischen Beleidigungen es Frauen tagtäglich zu tun haben, muss nur mal einen Blick unter die Videos und Facebook-Beiträge des vielversprechenden Hiphop-Duos SXTN werfen. Kommentare wie „Die Hübsche von den beiden soll mal solo was machen!“ oder „Die Weiße könnte Pornos drehen!“ sind noch die harmloseren Beispiele.

 

Viele meiner kreativen Freundinnen arbeiten unter einem Pseudonym, weil sie den Anfeindungen nicht mehr standhalten wollen. Davor sind natürlich auch männliche Künstler nicht gefeit, gerade wenn Social Media noch immer als eine Art GegenRealität aufgefasst wird, in der Moral und Respekt keinen Geltungsbereich finden. Doch Frauen trifft es viel häufiger unter der Gürtellinie und besonders in der Popkultur werden viel höhere Maßstäbe angesetzt: Als Frau muss man gut aussehen, perfekt gestylt sein, eine grandiose Stimme haben und dazu am besten noch alle Instrumente gleichzeitig spielen. Wie oft ich in meiner aktiven Musikerkarriere gefragt wurde, „ob ich das auch wirklich alles selbst mache“ kann ich kaum noch zählen. Und dann schlage ich ein Interview mit einem männlichen USRapper auf, der sich damit brüstet, dass an seinem neuen Song 16 Produzenten beteiligt waren. Aber klar, double standards sind kein Problem der Musikbranche. Natürlich darf man nicht ausklammern, dass eine gewisse narzisstische Ader und ein Hang zur Selbstdarstellung für den Erfolg im Popbusiness unausweichlich sind. Ich will gar nicht sagen, dass dieser Charakterzug eher bei Männern auftritt. Es scheint gesellschaftlich aber einfach akzeptierter, wenn ein Mann dieser Neigung nachgeht und sich ohne Rücksicht auf Verluste in den Vordergrund drängt, als eine Frau.

 

So „übersahen“ nämlich viele, die die Frauenquote beim Preis für Popkultur bemängelten, dass in einigen der nominierten Projekte durchaus Frauen beteiligt waren – nur wurden sie, im Gegensatz zu Casper, Drangsal und Bosse, nicht unbedingt namentlich erwähnt, sondern waren Teil eines Gemeinschafts- oder, wie es Stefanie Sprengnagel zynisch beschrieb, „Sozialprojekts“. Und das ist weniger wert als ein eigenständiger Ego-Act? Und wenn sich selbst kluge Frauen im öffentlichen Diskurs gegenseitig zerhacken, wer soll dann überhaupt Partei ergreifen für jene, die etwas auf die Beine stellen und versuchen, nach draußen zu tragen? Denn was in den meisten Diskussionen über das Thema totgeschwiegen wird: Es ist nicht so, dass nur die Männer für das ganze Problem verantwortlich sind. Die Wunschvorstellung, dass alle Frauen Hand in Hand gemeinsam für ihre Rechte kämpfen, wäre ein Traum, existiert in der Realität aber leider nicht. Gerade weil es so wenige Frauen gibt, die in der Öffentlichkeit Gehör finden (dürfen), konzentriert sich Neid und Missgunst auf diese wenigen Personen umso mehr, und zwar ausgehend von allen Geschlechtern. So wurde es bei den Kritiken zum Preis für Popkultur gerne so dargestellt, als hätte es sich bei der Jurybewertung ausschließlich um einen Kreis männlicher ChauviSchweine gehandelt, die sich gegenseitig die Preise zugeschoben haben. Aber der ca. 350 Mitglieder starke Verein zeigte bei der Veranstaltung augenscheinlich ein recht ausgewogenes Geschlechterverhältnis. So konnte ich es mir auch nicht nehmen, nach der Verleihung ein paar weibliche Stimmberechtigte zu der Thematik zu befragen. Die Aussage, die ich in den meisten Fällen bekam, war: „Ich hab da halt nichts mit Frauen gekannt.“ Ob man daran was ändern sollte? Achselzucken. Aber das ist doch genau das Problem! Die „Popkultur“, die diese Veranstaltung auszeichnet, ist ja nicht jene, die in der Silvesternacht ans Brandenburger Tor geholt wird. Aber auch nicht so unabhängig, dass nur ein kleiner Kreis Fachkundiger davon etwas mitbekommt. Sie findet irgendwo dazwischen statt.

 

Wenn ich an diese Art von Indie-Popkultur in Deutschland denke, dann kommt mir erst einmal die Hamburger Schule in den Sinn: Traurige Jungs mit Gitarren, die Songs darüber schreiben, wie ihnen das Herz gebrochen wurde. Welche Frauen werden damit nun gemeinhin in Verbindung gebracht? Entweder die, die als Moderatorinnen für das Musikfernsehen darüber berichtet haben. Oder die, die den traurigen Jungs das Herz gebrochen haben. Gewiss gab es auch aktive Protagonistinnen in der Szene. Aber hat die Öffentlichkeit etwas von ihnen mitbekommen? Nein. Und darum geht es ja. Die standardmäßige Antwort, mit der sich sowohl Labelchefs als auch Personalleiter in technischen Berufen gerne herausreden, ist, dass die männlichen Bewerber halt einfach besser gewesen wären. So hat eine Untersuchung zu weiblichen DJs – die nicht mal 5% des Bookings bei EDM-Veranstaltungen in den westlichen Nationen ausmachen – herausgestellt, dass die männliche Konkurrenz von den (zumeist ebenfalls männlichen) Bookern als „qualitativ hochwertiger“ eingestuft wurde. Selbst wenn das der Fall wäre, was meiner Ansicht nach hausgemachter Unsinn ist: Seit wann wird Innovation ausschließlich an der qualitativen Umsetzung gemessen? Drangsal, der Künstler, der beim Preis für Popkultur in den meisten Kategorien nominiert war, ist nun wirklich nicht der beste Sänger auf Erden. Aber das sind doch gerade die interessanten Acts: Die, die nicht perfekt sind, die ihren eigenen Stil durchziehen, die die Entgegennahme ihres Preises mit „Hauptsache nicht AnnenMayKantereit“ kommentieren.

 

Frauen, die in der deutschen Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, dürfen hingegen nicht anecken. Sie sollen lieb und nett sein, am besten mal in einer Fernsehsendung mitgespielt haben, weil da kennt man sie eh schon und geht kein Risiko ein. Wenn Deutschland eines sicherlich nicht ist, dann ist es risikobereit. Selbst ein Jan Böhmermann musste jahrelang dafür kämpfen, bis er von einer kritischen Masse anerkannt und plötzlich zum Schutzheiligen der Bundesrepublik ernannt wurde. Aber dafür muss halt auch erst einmal jemand aus dem Feuilleton kommen oder von einem großen Label und sagen, dass das okay ist, dass man das jetzt gut finden darf. Und sowas kann dauern. Und dann geht man eben erstmal auf Nummer sicher und setzt auf irgendwas, was allen gefallen könnte. Aber das ist halt auch oft einfach langweilig. Denn die Wahrheit ist: Deutschland findet starke und polarisierende Frauen wie Peaches und Stefanie Sprengnagel zwar gut und unterstützt sie ab einem gewissen Punkt – hätte sie im eigenen Land aber selbst nie großgezogen! Dafür ist Deutschland gar nicht mutig genug. Deutschland hat Julia Engelmann und Glasperlenspiel und wenn es ein bisschen alternativer sein soll dann vielleicht noch Jennifer Rostock. Alles Acts, die man nicht mit einem Indie-Preis auszeichnen würde, weil sie ja schon beim Echo genug Gehör finden. Es braucht also keine Mindestquote bei einer Preisverleihung. Die führt vielleicht dazu, dass für einen Abend händeringend nach weiblichen Acts in Deutschland gesucht wird um nach außen hin ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu propagieren, das in der Realität gar nicht existiert. Aber das ist doch der völlig falsche Ansatz! Stattdessen müssen Leute wie die, die in der Jury des Preises sitzen und in ihrem täglichen Leben mit Musik zu tun haben ihren Umgang mit weiblichen Acts ändern! Und dann eben auch mal über eigene Befindlichkeits- und Sicherheitsaspekte hinwegsehen und mehr Frauen booken, mehr Frauen signen und Frauen mit Bandmitgliedern, Aufnahmemöglichkeiten, Promo und vor allem Respekt und Unterstützung aushelfen.

 

Denn leider ist der Fall Kesha in der Musikszene kein Einzelfall oder Märchen. Als Frau wird man ganz schnell aus kreativen Projekten gestoßen, wenn man das männliche Ego von Producern oder Mitmusikern beleidigt oder in Frage stellt. Und als Frau macht man sich noch immer -– bewusst oder unbewusst – viel zu oft von männlicher Expertise und Rückmeldung abhängig. In deutschen Großstädten trifft man ständig auf fantastische, intelligente, wunderschöne Frauen mit kreativem Potenzial – die weit hinter ihren Möglichkeiten bleiben, weil sie sich selbst zu wenig zutrauen. Oft stehen sie in ihrer Selbstwahrnehmung noch unter dem Einfluss eines besitzergreifenden Ex-Freundes oder größenwahnsinnigen Hallodris, der sie abermals versetzt hat. Natürlich zieht so etwas das Selbstbewusstsein enorm in Mitleidenschaft (übrigens völlig unabhängig von Geschlecht und sexueller Neigung!). Aber liebe Frauen: Seid mutig genug, euch selbst als großartig genug zu empfinden, dass ihr euch nicht von den Unsicherheiten eines Mannes einschüchtern oder seiner individuellen Bewertung abhängig machen lassen müsst!

 

Männern wird das Selbstverständnis, als Person vollkommen ausreichend zu sein, ja auch von klein auf zugestanden. Aber es bringt ja nichts, sich das selbst einzureden. Es hilft nur, wenn eine ganze Kultur dieses Konzept umdenkt, wenn man Mädchen nicht dahin erzieht, sich hübsch zu schminken und nett anzuziehen, sich schön artig im Hintergrund zu halten, nicht auf Bäume zu klettern und überhaupt nichts zu tun was irgendwie risikobehaftet sein könnte. Und was die Popkultur angeht, weg von dem Idealbild „einsamer Wolf mit Gitarre am Lagerfeuer, umringt von Frauen, die ihn anhimmeln“ hin zu Frauen, die sich auf der exakt gleichen Position befinden dürfen! Mit Gitarre und Feuer und dem Recht sich auch mal nonkonform und unperfekt verhalten zu dürfen. Und Sachen zu sagen, die vielleicht gerade nicht angebracht waren, oder mal angetrunken und laut auf die Bühne zu gehen ohne für den Rest ihrer Karriere mit dem Stigma der alkoholkranken Schlampe und/oder „Emanze“ behaftet zu werden. Denn männliche Prominente dürfen sich das ja auch alles ohne weitere Konsequenzen rausnehmen. Liebe deutsche Popkultur, es ist schade, dass man sich im ausgehenden Jahr 2016 noch immer mit dem Thema „Frauenquote“ herumschlagen muss und Geschlechter so getrennt voneinander auszählt, als handle es sich um völlig unterschiedliche Organismen. Aber anscheinend sind wir noch nicht so weit, uns wirklich als gleichwertig anzusehen. Also lasst uns doch mal nachhelfen und gezielt weibliche Kreative unterstützen anstatt sie immer nur danach zu fragen, wen sie gerade daten. Die Zeit ist genau richtig und ich bin fest davon überzeugt, das Potenzial ist da, man muss es nur erkennen wollen.

 

(Ungekürzte Version von LEONIE SCHOLLS Artikel „Liebe deutsche Popkultur“, INTRO, 2016)