Geschichte eines Sommers

Candy und Mandy tun’s

Candy sagt:

»Okay, jetzt mach ich’s«, und bedient sich aus dem »kleinen Boot«, wie sie es nennt. Das kleine Boot, Candy hat’s heute mit den Metaphern, ist ein gefaltetes Stück Papier – und dann macht sie’s: ein Geräusch, als hätte sie einen Schnupfen und ein Gesicht, als wäre sie gerade aufs offene Meer hinausgeschwommen. Grinst schelmisch, meine treue Freundin Candy, grinst und schnupft, als sei die Nacht schon erobert, der Tag längst gewonnen, der Sommer noch in Reichweite.

Als könnten wir einfach noch mal umkehren. Zurück zu den Strand-Bars, wo ich Tolga und Gerry geküßt habe, und Mirko, zurück in den nachtkühlen Sand. Als sei der Sommer noch so wie am vergangenen Freitag. Gebräunte Haut glühte und getönte Gläser verbannten alles Schrille. Liebe ohne Liebe. Unsere Lieder am Strand, unsere Spuren im Sand. Selbstausgedachtes. Mein Lied finde ich im nachhinein gar nicht mehr so schlecht. Jedenfalls besser als ›The Boys of Summer‹ diesen unruhigen Schmachtbrocken von Don Henley. ›Liebe ohne Liebe‹ handelte davon, daß man nur frei sein kann, wenn man liebt, ohne zu lieben. Aber die andern mochten die Melodie nicht, und auf dem Weg nach Düsseldorf hat Candy die Akkorde vergessen. Egal, wir haben sowieso nicht die Freiheit zu singen, was wir wollen.

Der Sommer ist fast vergangen und ich stecke in der ersten Strophe fremder Lieder fest. Wir haben ein Doppelzimmer mit luxuriöser Gesangsanlage. Wir dürfen uns was aussuchen. Ein Lied aus dem Backkatalog der Arschlochwelt. Wir sollen ja auch Spaß beim Singen haben. Aber mein einziges Gefühl ist, daß ich keins habe. Am Strand war alles viel schöner. Dabei sind wir selber schuld. Wir haben die Strand-Bars gecancelt, um Superstars zu werden.

»Nobody on the road, nobody on the beach.

I feel it in the air, the summer’s out of reach …«

»Candy, es ist doch logisch, daß ich das Lied nicht packe. Ich bin mental noch nicht beim Super-Recall-Letzte-Runde-Es-geht-um-Alles-Casting.«

»Macht nichts«, grinst Candy, die noch bessere Laune hat seit ihrer kleinen Bootsfahrt, »hast ja noch acht Stunden Zeit, bis die Jury dich auseinander nimmt.« Sie schlägt wieder die Akkorde an Em, C, D, C und fügt bissig hinzu: »Hättest ja mal einen Typen auslassen und dafür dein Lied üben können! Mensch Mandy, dieses Vorsingen entscheidet über die Endrunde.«

Das war hart, sie bricht ab, wir schweigen.

Nur die Akkorde noch, auf der silbernen Gitarre, Em, C, D, C, und wieder von vorne. Glitzer-Gitarren nimmt man ihr Geklimper auch wirklich ab. Spielerisch erfassen sie jede Silbe.

»Red’ nicht so einen Scheiß, Candy«, sage ich streng, »Was heißt hier einen Typen auslassen? Ich laß doch nicht, ich laß keinen aus. Ey, ich bin eine Sängerin, ich bin Mandy, verstehst du, und ich lache mit jedem, der mir gefällt. Okay?! Das blöde Lied fällt mir nur deshalb so schwer, weil es so schwermütig ist …«

Candy lacht jetzt auch, mich aus.

»Schon klar, Sängerin Mandy: Du findest dieses zartfühlende Liebeslied schwermütig und bist doch nur zu blöd, mal an einer Sehnsucht, einer Liebe festzuhalten. Du hattest doch drei Jungs am Start. Wenn ich mir vorstelle, daß du in keinen von denen verliebt warst, werde ich ganz traurig.«

»Ich werde auch traurig, wenn ich weiterhin diesen Scheiß singen muß.«

»Diesen Scheiß! Wie redest Du über eines der besten Lieder aller Zeiten? Mensch Mandy. Man muß sich nicht mehrmals am Tag verknallen, um sein Selbstwertgefühl zu steigern. Es geht auch darum, durch den Zweifel hindurchzukommen. Du bist ein bißchen wie diese wunderschöne hochnäsige Beach-Beauty-Blödfrau in dem Lied! Stell dir einfach vor, du wärst diese Frau, der Don Henley in dem Lied hinterher rennt.«

Auf diese kleinen Schmeicheleien falle ich nicht herein:

»Wie kommst du darauf, daß er ihr hinterher rennt? Das steht nicht im Text. Das interpretierst du nur rein, um mir was einzureden.«

»Quatsch. Er singt doch eindeutig:

 

I’m drivin’ by your house

Though I know you’re not at home.‹

Der Arme!«

»Also Candy, bei dir sitzt auch ne Schraube locker: Wenn er zu ihrem Haus fährt, obwohl er weiß, daß sie nicht da ist, dann will er sie doch gar nicht treffen. Dann macht er’s auch nur, um sich weiter in seine Gefühlswelt reinzusteigern. Er träumt, aber er handelt nicht. Er ist nicht besser als sie.«

«Jetzt reicht’s aber. Natürlich ist er besser als sie: er hat sich für sie entschieden, während sie elfengleich am Strand entlangstolziert und mit jedem flirtet. Sie ist ein Poser, aber er steht zu seiner Pose.«

»Oh wow, ich verneige mich vor so viel Größe. Können wir jetzt bitte weitermachen? Bevor du mir noch einredest, ich müsse mich zwischen dem tollpatschigen Tolga und dem selbstherrlichen Gerry entscheiden, sing ich mal lieber wieder:

The Sun goes down alone, I’m drivin’ by your house‹«

Schon werde ich unterbrochen.

»Moment, Moment – das ist der tollste Satz im ganzen Song«, sagt Candy und klimpert weiter auf der Gitarre, »sing ihn doch einfach eine Oktave tiefer. Damit man förmlich sieht wie die Sonne untergeht. Wie sie alleine untergeht! So wie du alleine untergehen wirst, wenn du dir nicht endlich ein Beispiel nimmst, am mutigen Don Juan Don Henley, der zu seiner Liebe steht.«

Candy ist in ihrem Element. Sie strahlt!

»Also gut«, ich nicke ergeben und tue, wie mir befohlen. Dann singe ich den Schnulzensatz eine Oktave tiefer, dann wieder höher.

Candy nickt, als wäre das schon mal nicht übel. Ich gebe mir einen Ruck und singe das Lied in einem Rutsch durch. Ich höre einfach nicht mehr auf. Ich beobachte dabei Candy, den einzigen Menschen, der zu mir hält. Wenn man ein Lied singt, muß man immer an jemanden denken.

Candy wird den dritten Recall morgen mit Glanz und Gloria bestehen.

Nicht nur, weil sie so schöne lange Haare hat. So natürliche, Lange-im-Trend-Haare. Candy kann ihr Lied schon seit drei Wochen. Obwohl ›Summer Of 69‹ kein chronisch kranker Gefühlssong ist, sondern ein glatter Hit, der mit Emotionen nur spielt. Doch das stört Candy seltsamerweise gar nicht. Candy sagt, die wahren Gefühle hebt sie sich für ihr Privatleben auf, für die wechselseitige Geben-und-Nehmen Beziehung mit Till. Candy sagt, sie kann alles singen, was von ihr verlangt wird. »Hab ich alles schon mal gefühlt«, sagt sie, »hab ich alles durch.« Irgendwas davon, irgendwas von sich, was sie durch hat, bringt sie immer rüber, sagt Candy.

Und Candy sagt, sie will den Sommer ihres Lebens. Sie will endlich Geld!

Meine treue Freundin Candy kann ›Summer Of 69‹ von Bryan Adams perfekt singen. Sie singt das nostalgische Lied so, als hätte sie den Sommer ’69 erlebt. Als sei sie so eine verfluchte alte Häsin im Showgeschäft. Eine »Hitrakete mit Routine«, die alle Klischees erfüllt, die unsere bescheuerten Juroren erwarten. Von uns Pseudo-Superstars, über die alle lachen. Candy will nur weiterkommen. Candy sagt, die wahren Gefühle hebt sie sich fürs Privatleben auf. Candy sagt:

»Wir haben jetzt die Zeit unseres Lebens und wir tun alles, was sie von uns verlangen.«

Natürlich hat sie auch beschlossen, daß wir uns bei »Karaoke killed the Punkrockstar« bewerben und für jede von uns einen Sommersong ausgewählt. Denn beim dritten Recall dürfen wir selber wählen! Es war ihre Idee, daß ich ›The Boys Of Summer« singe. Ich soll den schwermütig-tiefen Song nehmen, hat Candy gesagt, und sie nimmt den leichten. Sie hat gesagt:

»Es ist gut, etwas zu singen, was dem eigenen Charakter widerspricht.« Candy findet nämlich, daß ich oberflächlich bin. Aber Candy kann’s nur nicht leiden, daß ich so viele Affären habe, und trotzdem keine Drogen brauche. Außerdem glaube ich sowieso nicht, daß es ein Song über die Liebe ist. ›The Boys Of Summer‹ handelt doch ganz allgemein von enttäuschten Hoffnungen, verlorenen Chancen, von dem Gefühl, nicht mehr zurückzufinden. Ich halte abrupt inne und stelle sie zur Rede:

»Hey«, sage ich provokativ, »die leidenschaftliche Liebe, von der du ausgehst, ist doch nur eine Metapher für das Verzehrende des Sommers. Sein Glühen. Seine Versprechungen. Seine Einmaligkeit. Und der Sommer wiederum ist eine Metapher für große Utopien. Du hast doch nur Angst davor, in deinen gewöhnlichen Alltag zurückzukehren, wenn du nicht auf einen Schlag deinen tollen Gesangswettbewerb gewinnst und ganz schnell reich und berühmt wirst. So toll kann es ja nicht sein, zwischen dir und deinem Freund, wenn du dich freiwillig für ›Summer Of 69‹ entscheidest. Wie du das nur aushälst, diesen Scheiß zu singen: Those were the best days of my life‹

»Ey, die CD hat mein Vater in seiner Sammlung. Da bildet der sich unheimlich was drauf ein. Wie authentisch sie früher gewesen sind. «

»Und wir dummen Karaoke-Kids mit japanischen High-Tech-Gesangsverstärkern, wir haben ja von gar nichts eine Ahnung. Wir haben ja nicht mal eigene Lieder! Dabei machen wir vor jedem Casting die höllischsten Psycho-Trips durch. Und müssen dann auch noch ins Fernsehen damit. Und unsere feinen Eltern finden es schon mutig, wenn sie im Restaurant mal etwas lauter nach dem Kellner rufen, der noch etwas Olivenöl bringen soll. Und von diesen Bryan-Adams-Typen sollen wir uns einreden lassen, wir hätten keinerlei ›Ecken und Kanten‹ mehr. Ha.«

Candy sagt nichts mehr. Schaut nur ein bißchen nachdenklich auf ihre glitzernde Gitarre. Da füge ich schnell noch etwas hinzu:

»Also nenn mich bloß nie mehr oberflächlich, nur weil ich blonde siebzehn bin und noch träumen kann, und mich weder für Tolga noch für Gerry entscheide, noch nicht damit abgeschlossen habe, ich selber sein zu wollen. Und nicht auch noch erleichtert darüber bin, daß der Sommer fast vorbei ist.«

Während ich so daherrede, kommt Bewegung in Candy. Auf einmal steht sie vor mir, schüttelt mich und ruft ganz begeistert:

»Mandy, du hast es geschafft! Du hast das Lied endlich verstanden!

Und jetzt: Sing!«

(Kerstin, “Soundtrack eines Sommers”, Anthologiebeitrag, 2005)