“Nail Art muss Vollkunst werden” Und wenn nicht, auch egal. Hauptsache der Roman “M” von Anna Gien und Marlene Stark ist Vollkunst – getarnt als Popliteratur und Erotikbericht des Jahres 2019.
Wir freuen uns schon sehr auf die Lesung des Autorinnenduos am 4.4. bei Krawalle und Liebe #6!
Ihr gerade bei Matthes & Seitz erschienener Roman mit dem mysteriösen Titel “M” entwickelt einen schnellen Sog und ich habe es in einer Nacht, in der ich mit einer Erkältung im Bett lag, zu Ende gelesen. Bin sogar zwischendurch, als ich um vier Uhr nachts aufgewacht bin, heimlich wieder ans Buch, weil man dieser Entstehung einer neuen Boheme in den Neuköllner Kellerclubs; der damit verbundenen Armut und Anmut; das immer Genauer und Sinnlicher-Werden mit Musik (Die Protagonistin ist DJ) und den pointierten Kunstbeschreibungen (sie ist auch Künstlerin) beinahe atemlos beiwohnt. Den vielen Sex hätte es vielleicht gar nicht gebraucht, die Rezeption stürzt sich – wie kann es anders sein 🙂 – so darauf, dass es die eigentliche Stärke des Buches gar nicht mehr richtig mitbekommt: Die gute alte Frage: wie leben, wenn man keinen Bock hat auf Fulltimejob, was machen, wenn man so genaue Techniken der künstlerischen Aufzeichnung der Wahrnehmung entwickelt hat (auch mithilfe von Drogen meinetwegen), dass man in diese Gesellschaft gar nicht mehr richtig reinpasst oder reinfindet. Und da passt dann eben doch auch der Sex dazu, weil, wie leben, wenn nachts um halb vier auf der Damentoilette die spannendsten Ereignisse geschehen.
Sehr lachen musste ich deshalb über den Satz von „M“ an einen Galeristen; sie versucht ihn, noch im schlimmsten Kater in einer Email von einer Ausstellungsidee zu überzeugen: „Nail Art muss Vollkunst werden! “ Der Versuch, eine Nische zu finden und nicht selber weggespült zu werden wird minutiös beschrieben. Dabei ist eben das charmante Beispiel „Nail Art“ genau die Schiene, auf der die Personen in diesem Buch denken. Achtsamkeit und Alltag!
Es stimmt eben genau nicht, wie Iris Radisch in der ZEIT schreibt, dass das Neue oder Aufregende an dem Buch die Sex-Szenen sind usw, „Frauen beschreiben Sex, blabla“… das ist doch gar nicht das Neue. Was sie meint ist vielleicht , dass der Sex, den man im Jahr 2019 beschreibt anders ist, als der, den eine*r 1970 beschrieben hätte. Aber „Frauen und Lust“ an sich, das neue Ding, ach herrjee. Frauen, auch in der Kunst, werden doch seit jeher über den Akt definiert, auch dass sie ihn heute selbstbestimmt definieren, passiert seit 30 Jahren. Aber dass Frauen selbstverständlich Platten auflegen und Kunstkritiken veröffentlichen, eben nicht. Das hätte Iris Radisch eigentlich auch mal bedenken können. Anstatt mal wieder den ewigen Refrain von der endgültig befreiten weiblichen* Sexualität zu bringen. Schlimm dabei auch, dass sie am Anfang des Textes darüber schreibt, wie unselbverständlich und selten Romane von Frauen sind und da in die Jahrhunderte zurück geht. Überhaupt Kunstwerke von Frauen seien sehr selten, schreibt Iris Radisch. Wie bitte? Dabei besteht das Problem doch darin, dass Bücher von Frauen zu weniger als einem Drittel im Feuilleton rezipiert werden, und nicht, dass es sie nicht gibt. Kein Wunder, wenn dann wieder nur der Sex-Aspekt in den Mittelpunkt gerückt wird, damit man mit halbnackten Frauen*-Fotos Auflage machen kann. Und überhaupt: hat Iris Radisch jetzt eigentlich auch noch die vierte Welle des Feminismus verpasst? Wie dem auch sei… –
Die legendäre US-amerikanische popfeministische Kritikerin Ellen Willis, die den Musikjournalismus für Frauen erfunden hat, hat schon in den 1960er Jahren in ihrem großen Essay über Janis Joplin kritisiert, dass die Frauen in der Hippie Bewegung so viel Emphase auf Sex gelegt haben, weil sie das Gefühl nicht loswurden, dass ihnen eine größere Befreiung vorenthalten wurde.
Vielleicht nähert man sich dem super Roman von Gien und Stark am besten, wenn man ihn als Synthese aus beiden Aspekten liest: die Protagonistin will die Definitionsmacht in der Kunstszene und versucht dies über kreative, experimentelle Sexgruppenspiele zu erreichen, wo sie eben auch die Definitionsmacht (in Einwilligung natürlich) will. Neu ist auch, dass mal wieder eine Protagonistin in einem aktuellen Pop-Roman, der den Namen verdient hat, ihrer Mutter-Generation vorwirft, nur 1/3-Feministinnen gewesen zu sein.
Unübertroffen auch die Szene, wie sie am 24.Dezember nachmittags noch im Zug sitzt, um ihre Eltern in Süddeutschland zu besuchen, wo sie schließlich um 21 Uhr ankommt. Und die Eltern wundern sich schon gar nicht mehr, dass sie den späten Zug genommen hat.
Unübertroffen auch der folgende Xmas – Dialog darüber was normal ist, wenn eine in Neukölln lebt und versucht im neoliberalen Dickicht als Künstlerin zu leben. Versus: einfach nur das total abgesicherte überraschungsfreie Leben in der Provinz mit Anbindung an Autokonzernkohle zu leben. Auch hier geht es nur vordergründig darum, dass die Mutter die Tochter zuvor belauscht hatte, wie sie Telefonsex hatte ( und dachte, diese wäre eine Hure, also Sexarbeiterin). Sie habe da doch mal von diesem gutbezahlten Job in Hamburg erzählt 😉
“Du siehst doch auf uns herab, M. Obwohl du weißt, dass du nicht besser bist als wir. Es ist nicht schwer, ein normales Leben zu verurteilen.” Ich starre auf den Boden und schüttele den Kopf. “Ich sehe nicht auf euch herab, Mama. Also schau, für mich fühlt es sich eher so an, als würde ich … als würde ich auf einer wackeligen, selbstgestrickten Hängebrücke stehen, weißt du? So eine wie in diesen Filmen, diesen Abenteuerfilmen im Amazonas. Ich flicke die ganze Zeit an der Brücke herum, um nicht abzustürzen. Weil überall schon die Seile runterhängen und das Holz ganz morsch aussieht, und dabei weiß ich nicht mal, wo die Scheißbrücke hinführt. Und ihr, ihr spaziert ein paar hundert Meter weiter auf so einer statisch einwandfreien Betonbrücke herum, die irgendein Architekt nach altbewährten Plänen gebaut hat. Das ist nicht Herabschauen, sondern einfach … struggle! Ich weiß schon, dass wir den selben blöden Fluss überqueren.” Jetzt bin ich stolz auf meine Brückenanalogie und versuche an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie es verstanden hat. “Bist du glücklich, M.?” “Irgendwie schon.”
Als ich Virginie Despentes “Subutex Trilogie” gelesen habe, habe ich mich immer wieder gewundert, wieso sich eigentlich ganz Paris und ganz Frankreich in diesem Buch wiederfinden will; bei allem Riesenrespekt vor allem was beim Subutex gelungen ist, aber: Diese oberflächlichen kaltherzigen Arschlöcher, seriously? Dieser durchweg kalte Blick fast aller Protagonist*innen darin; dieser Narzissmus und dieser Menschenekel, ob von rechts oder von links…Will sich damit irgendwer identifizieren? Ich nicht! Und ich dachte mir, ein Buch, das das Berlin der Gegenwart abbilden würde, wäre, wenn es richtig stimmig gemacht würde, ganz sicher das Gegenteil davon: warmherzig, verzweifelt, mehr auf Verständigung aus. Auf Überbrückungen von Anfang an, statt auf das Trennende zu setzen!
Und auch wenn man die beiden Bücher in keinster Weise miteinander vergleichen kann, so bestätigt mich “M” doch im Kern: das ist Berlin 2019. Es ist nicht cool, es ist hot. Und liebevoll. Allein der Blick auf die “alten, weißen Männer” im Kunstbetrieb, wie genau ihr Gebahren und ihre Spielchen beschrieben werden. Kein bisschen hämisch oder von oben herab. Sondern mit Witz und einer ansteckenden Lust mitzuspielen. Nur irgendwie anders. In diesem Buch gibt es keine Feinde, nur schlechte Gerüche und falsche Strukturen. Aber keine feindselige Beschreibung von Menschen. Kein Selbsthass und Selbstekel auch, bei aller Selbstkritik.
Das was ersetzt werden soll wird nicht entthront, sondern umarmt, wenn auch nach eigenen Regeln, die keine*r so genau versteht und verstehen soll.
Und das ist die wahre Leidenschaft. Es fehlt der böse Blick! Danke, allein schon dafür!
Und hier, zur Einstimmung auf Krawalle und Liebe, ein toller Podcast, mit Interview von Mascha Jacobs: