von Sandra Grether // aus SPEX_Oktober 2016
Rio Reiser
(Rio Reiser Archiv)
In diesem Sommer las ich mit wachsender Verblüffung die Biographie „Halt dich an deiner Liebe fest“, die Rio Reisers Bruder Gert Möbius zum 20. Todestag von Rio verfasste. Das Buch ist ein Panorama deutscher Musik-und Politikgeschichte, gibt aber auch der ganz privaten Verzweiflung Rios an den heterosexistischen Verhältnissen seinen Raum. Für den manischen Fan aus der Ferne, der in seinen Vorstellungen immer wieder versucht die Puzzlestücke aus Rio Reisers Leben und Werk zu einem Ganzen zusammenzufügen, ist dieses Buch ein Fest. Mir persönlich gab die ständige Nähe zum (revolutionären) Theater zu denken, das seine Brüder Peter und Gert erfanden und betrieben: Rios absolute Mitgestaltung des Kulturbetriebs, inklusive Neuerfindung von Ritualen und Genres (erste Beat-Oper, Miterfindung des Tempodrom, erste Hausbesetzung usw.), als müsste die Möbius-Gang für jedes (Ton Steine Scherben-) Konzert den Raum und die Idee dahinter erst erfinden. Jetzt, im Herbst, wo auf einmal diese 16 CD-Box mit 363 (!!!) nahezu unveröffentlichten Tracks hereingeschneit bekommt, merke ich erst, wie sehr ich beim Lesen des Buchs die ganze Zeit versuchte, mir vorzustellen wie die Songs klingen, die Rio für all diese unerhörten Aufführungen geschrieben hat.
Er ist ja jenseits der allseits bekannten Veröffentlichungen auch Komponist unzähliger Beat-und Stadtopern, schrieb Songs für die in den 1970ern für Furore sorgende schwule Theatergruppe Brühwarm und für viele mehr. Und jetzt endlich, nach 20 Jahren Arbeit daran, erscheinen all diese Lieder, dank der liebevollen Auswahl und technisch hochversierten Bearbeitung durch u.a. den Gitarristen und Komponisten Lutz Kerschowski. In Zusammenarbeit, versteht sich, mit den Musikern von Ton Steine Scherben und in enger Zusammenarbeit mit allen Künstler*innen, die seinerzeit an den jeweiligen Projekten beteiligt waren. Die Box kommt mit einem tollen, informativen, bildreichen 228-seitigen Begleitbuch.
Der Platz einer Plattenkritik ist naturgemäß zu begrenzt um auf die einzelnen Lieder und Schaffensphasen näher einzugehen. Aber man darf doch in aller gebotenen euphorischen Vorfreude festhalten: die Dylanisierung und Brechtisierung Rio Reisers erreicht einen neuen Höhepunkt, um nicht zu sagen: der Rio Reiser-Kult hat gerade erst begonnen! Und das ist in diesem Fall eine gute Nachricht, weil Kult hier bedeutet einen Künstler zu lieben und zu hören und nachzuvollziehen, der Zeit seines Lebens zu radikal war für den ganz normalen Musik-Mainstream – und zu sehr Künstler für die Linke, die er als latent kunstfeindlich und Message-süchtig kritisierte. Rio Reiser musste erst die Gesellschaft verändern, um seine Liebe leben zu können. Und so sind auch seine Liebeslieder noch Anklage an die Gesellschaft. Ich brenne darauf sie mir alle genau anzuhören und dann davon zu berichten. Beginnend bei seinen Beat-Jahren, als er noch englisch sang. Rio Reiser liebte die Beatles auf Anhieb: „Das sind Wir… Das sind die, die einfach sind wie Mädchen. Da sangen Jungen wie Mädchen, es war hart und weich zugleich. Es gab mir eine ungeheure Kraft.“