von Sandra
“Wasch deine Sorgen weg”! Das kann man auch nur sagen, wenn man keine hat… Oder Probleme nicht lösen will.
Das Lied “I don`t feel hate” von Jendrik war mir zwar schon seit Tagen irgendwie suspekt (wissen wir doch seit Jahrzehnten, aus dem Punkrock-Diskurs z.B., dass gerichteter Hass durchaus auch was Positives, Empowerndes, Herrschaftsbekämpfendes haben kann). Aber nun gut, dachte ich. ESC-Deutschland tritt hier also mal mit einem fröhlichen, nicht-sentimental-pathetischen; stattdessen einem lustigen und bunten Lied an, das auch kein schlecht komponierter Popsong ist. Mit Culture Club und Dexys Midnight Runners Zitaten drin, herrlich. Und außerdem ist es ja toll, wenn der deutsche Beitrag mal Mut zur Albernheit beweist. Dass der Song ein Lied gegen “Hassbotschaften im Netz” sein soll, wurde wohl von Jury, NDR, ARD oder dem Artist selber, man weiß es nicht, im Nachhinein hinein interpretiert, es ist im Text selber nicht enthalten.
Beim ersten Hören – ich gebe zu, das war bereits während der Liveaustragung des ESC, ich hatte wenig Mut, mir den deutschen Beitrag schon vorher anzuhören, und wollte mal schauen, wie es so im Gesamten wirkt, wenn man es zum ersten Mal hört – tippte ich optimistisch auf einen versöhnlichen Liebessong. Also Liebessong an eine oder einen Ex, oder so.
Ein paar Tage später – ich hatte den Song vom einen Mal hören immer noch im Ohr (tatsächlich hat die Jury an diesem Punkt Recht, es ist ein Ohrwurm, aber das ist trotz allem ein Kriterium aus den `80`s. Die eingängige Melodie ist heute nur noch the icing on the cake, sie ist nicht der ganze Kuchen) – war er mir doch wieder zunehmend suspekt erschienen: ist es nicht, fragte ich mich, irgendwie auch eine typische Verhaltensweise von so manchem, sagen wir mal salopp, dünnen white Dude, der seine Privilegien nicht reflektieren will; und stattdessen sofort in Abwehrhaltung geht und zur Gegenreaktion bläst:
“Reg dich nicht so auf”. “Sei mal fröhlich.” “Lächele mal.” “Also, ich fühl keinen Hass.” “Ist was?” Manche Menschen, die ins Privileg geboren sind, können es sich scheinbar leisten, keine berechtigte Wut auf Beleidigungen zu fühlen. Weil diese Beleidigungen sozusagen immer tatsächlich persönlich gemeint sind, und nicht so sehr auf Stereotypen beruhen, wie z.B. rassistische, sexistische Zuschreibungen. Da kann man sich leicht gönnerhaft gerieren.
Und wird Menschen, die gemobbt werden, nicht immer geraten, dass sie sich wehren sollen? Was ist mit der Wehrhaftigkeit der Opfer von Hassbotschaften, sollen die sagen: “I don`t feel hate” und Schwamm drüber? Denn auch wenn sie keinen Hass fühlen, so könnten sie doch – z.B. als Self-Empowerment-Strategie – reagieren. Was also soll eigentlich diese pietätlose Botschaft dem Gemobbten bitte bringen?
Zwar rätselte schon lange keine*r mehr, warum Deutschland mal wieder den ESC verloren hat, und auch ich tippte weniger auf den Song als Grund. Dennoch schaute ich mir dann doch mal das Video an.
Achtung Triggerwarnung!
Und hier noch ein Beitrag dazu: https://www.swr.de/schlager/stories/eurovision-songcontest-kandidat-jendrik-sigwart-veroeffentlicht-seinen-esc-song-artikel-100.html
Jetzt reg ich mich nur noch auf! Das Video beginnt damit, dass mehrere marginalisierte Menschen in einem Waschsalon nebeneinander sitzen, gelangweilt und genervt schauen.
Dann wird Jendrik auf einem Sofa reingeschoben; der König mit der funkelnden Ukulele und der unbeschwert guten Laune. Toxische Positivität? Und jetzt steht plötzlich dieser Typ, anders als beim Live-Auftritt, wo er MIT den Leuten tanzte, gegen diese. Und erzählt ihnen aber sowas von locker (vom Hocker), dass er keinen Hass fühlt (gegen wen fragt sich die Zuschauerin, gegen die Leute, die da sitzen?). Stattdessen: “Nur Mitleid”. Okay! Danke, das ist ja genau das, was Menschen, die diskriminiert werden, weil sie nicht “mehrheits-gesellschafts-gerecht-genug” sind (oder sein wollen), hören wollen. Dann werden diese beiden Positionen im Video irgendwie gegeneinander ausgespielt, man möchte es nicht in Worte fassen, am Ende sitzen aber alle zusammen und essen Kuchen. Toll!
Strukturelle Unterdrückung existiert nicht, “Mach dich mal locker”, sagt der dünne Song zum nicht-körpernormativen Jungen, der ein Schild mit der Aufschrift “Klops” hoch hält. Schließlich fühlt der normschöne Jendrik “keinen Hass”. “Nicht mal gegen dich.”
Aber die deutsche Jury bzw. die Presse-Strategie schafft es trotzdem, dies alles als Statement zur Diversity zu verkaufen. Diese Idee von Diversity ist noch perfider als die Pseudo-Diversity in Germanys Next Topmodel bei Pro Sieben. Es ist wahrscheinlich nicht mal wirklich böse gemeint… Und der bescheuerte ESC-Kommentator Peter Urban mutmaßt gar, Europa habe vielleicht die Message des Songs nicht verstanden und deshalb Zero Points gegeben.
Schätze mal, Europa hat die Message dieses Songs sehr gut verstanden …
Und wahrscheinlich haben sich viele, mit Sicherheit aber die Jurys der jeweiligen Ländern, das Video im Vorfeld mal angeschaut. Und diese Jurys sind nicht, wie wir hier beim Blog, auf den Live-Auftritt hereingefallen. Denn wir haben uns gefreut, dass die Frauen aus dem Ensemble auf der großen ESC-Bühne Instrumente spielten. Oder das Spielen imitierten. Denn dass dieses “Frauen spielen Instrumente” wiederum nicht seine Band war, sondern ein billiger Showeffekt, war uns allerdings schon unterschwellig klar. Aber trotzdem: gute Message!
Ja, so kompliziert ihr lieben ESC-Verantwortlichen, ist Pop-Kultur. Und wenn dann noch unfreiwillig politische Betrachtungen dazu kommen – einfach wegen des europäischen Gesamtrahmens – dann sind die Verantwortlichen hinter den Kulissen, hoffnungslos überfordert, um es mal sehr freundlich zu formulieren, und ganz ohne übertrieben negative Emotion. Nur: auch darum, negative Gefühle komplett auszublenden und zu verbannen, geht es bei der Popkultur so gar nicht.
Zum Thema “Toxische Positivität” habe ich diesen schönen Beitrag auf rosa-mag.de, dem “ersten Online-Lifestylemagazin für Schwarze Frauen”, gefunden:
Zum Thema “ESC 2021”: Weiterlesen auf diesem Blog: