Kris Davis ist eine der spannendsten Jazz-Musikerinnen der Gegenwart. Mit bisher 13 feinsinnigen und introvertierten Alben hat die 1980 in Vancouver geborene Jazzpianistin und Komponistin ein beeindruckendes Werk in einem rasanten Zeitraum vorgelegt. Der Kritiker Mark F. Turner verglich sie in All About Jazz als Pianistin/Komponistin bereits mit Myra Melford beziehungsweise Geri Allen. 2021 erhielt sie den Doris Duke Artist Award.
Hier spielt eine Musikerin, wenn schon nicht um ihr Leben, so doch auf jeden Fall: für ihr Überleben! Kris Davis führt alles auf, was an Möglichkeiten und freien Kompositionen nur denkbar ist. Mal reduzierter, mal opulenter, öfters mal mit, aber auch ohne Lyrics. Manchmal genügen eindringliche Textfetzen, um zur Verdichtung eines Songs beizutragen.
Anfang der Nullerjahre zog die kanadische Pianistin nach New York, wo sie Kompositionsunterricht bei Jim McNeely erhielt. Sie lebt auch heute noch in den USA, mittlerweile in Boston.
Als erstes interessiert mich (die ich mit 30 Jahren zum ersten Mal Klavierstunden hatte), wie früh man anfangen muss, um es zur ganz großen Meisterinnenschaft auf dem Instrument zu bringen.
Kris, kannst du dich noch an den Moment erinnern, an dem Du zum ersten Mal Klavier gespielt hast? Wie alt warst Du? Und wann hast Du beschlossen: das ist es, was ich mit meinem Leben machen will?
Kris Davis: „Mit 6 Jahren habe ich angefangen, Klavier zu spielen. Ich hatte eine Cousine, die Klavier spielte. Als ich sie zum ersten Mal spielen sah, wollte ich meine Ideen und Gefühle auch durch Klang und meine Finger vermitteln können, so wie sie es tat. Meine erste Klavierlehrerin hieß Melody. Sie war eine wunderbare, engagierte Lehrerin. Wir haben den Lehrplan des Royal Conservatory durchgearbeitet und ich arbeitete mich durch die Klassiker von Beethoven, Bach und Mozart. Als ich etwa 9 Jahre alt war, wollte ich damit aufhören. Ich empfand das klassische Klavierspiel als einsam und hatte mit Lampenfieber zu kämpfen. Meine Mutter ermutigte mich, bis zum Ende des Schuljahres weiterzumachen. Als das Schuljahr dann zu Ende war, hatte ich Freude am Spielen wiedergefunden.“
Wann hast du dich entschieden Jazz zu studieren? Wo und wie kamst du mit dem Jazz Kanon in Kontakt?
„Als ich 12 Jahre alt war, habe ich bei der Jazzband meiner Mittelschule vorgespielt. Der Lehrer der Band war ein leidenschaftlicher Jazz-Fan und gab seinen Schülerinnen und Schülern Jazz-Alben zum Anhören mit. Die erste Platte, die er mir gab, war „My funny Valentine“ von Miles Davis, und ich verliebte mich sogleich in diese Musik. Ich liebte die Art, wie Herbie Hancock Klavier spielte, die Verbindung, die er mit Tony Williams hatte. Ich transkribierte jedes Herbie-Solo auf diesem Album. Kurz nachdem ich der Jazzband beigetreten war, durfte ich ein Solo zu einer Ballade für unser bevorstehendes Konzert spielen. Es war das erste Mal, dass ich vor einem Publikum improvisierte und ich fand es einfach nur toll. Ich musste mir keine Gedanken darum machen, dass ich falsche Noten spielen könnte. Ich konnte ich selbst sein. Ich musste nicht die Sprache eines anderen reproduzieren, wie es in der klassischen Klaviertradition der Fall war. Es war kreativ und bestärkend. Nach diesem Konzert beschloss ich, Jazzpianistin zu werden. Ich traf mich an jedem Wochenende mit einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem Saxophonisten der Big Band und wir übten und jammten zusammen, lernten Stücke aus dem „Real Book“ (Notationen von Jazzstandards) und hörten zusammen Musik. Auf diese Weise lernte ich die Musik von Keith Jarrett und Bill Evans kennen.“
Du hast in einem Interview gesagt, dass Mentorenschaft immer sehr wichtig für Jazz Education war. Wer waren deine Mentorinnen und Mentoren und wie wichtig waren sie für Dich?
„Mentoren waren sehr wichtig für mich und ich habe in den verschiedenen Phasen meiner Entwicklung immer wieder welche gehabt. Zuerst natürlich meinen Bandlehrer bei der Mittelschule – sein Enthusiasmus für Jazz war ansteckend und er hat uns alle sehr unterstützt. Im College lernte ich bei den Pianisten Gary Williamson und Brian Dickinson, die beide großartige Lehrer waren und mir halfen, in die Jazztradition einzutauchen. Gary lehrte eine Klaviertechnik von Godowsky, die von Pianist zu Pianist weitergegeben wurde. Ich wollte bei ihm lernen, da ich Schwierigkeiten mit meiner Technik hatte. Ich hatte das Gefühl, dass meine Art zu spielen meine Fähigkeit zu kommunizieren einschränkte. Es dauerte zwei Jahre, bis ich unter Garys Anleitung lernte, die Schwerkraft und das Gewicht meiner Arme zu nutzen sowie unnötige Bewegungen zu vermeiden, um an einen Punkt zu gelangen, an dem ich das Gefühl hatte, das Instrument spielen zu können. Als ich nach New York zog, begann ich, mich mit improvisierter Musik zu beschäftigen. Tony Malaby wurde ein wichtiger Mentor, der mich ermutigte, zu komponieren sowie Improvisation und Komposition zu verbinden. An den Wochenenden gingen wir zu ihm nach Hause, spielten den ganzen Tag und sprachen dann über Konzepte und Ansätze.
Fließendes Glück & die schwarzen Tiefgaragen unseres Daseins
Kris Davis Songs kann man auch verstehen, wenn man keine ausgesprochene Jazz-Fachfrau ist. Man muss sich auf Empfang stellen, und sich etwas Zeit geben, aber dann wird man schnell süchtig nach diesen Tracks, ihrer Spielweise, den eingestreuten Textschnipseln, die oft von männlichen Stimmen vorgetragen werden. Es ist ein Genuss mitzubekommen und mitzuschwingen, wie diese überhitzten Klänge auf das abgeklärte, immer hochkomplexe, immer strahlend ausgeführte Handwerk treffen.
Es gibt piano-hektische Narrative, die oft ganz allein – oder nur von spärlichen Drumsounds begleitet – durch die mal engeren, mal weiteren Gassen einer sich selbst beobachtenden Seelen- und Weltenanschauung führen. Umflutet von allerlei balladeskeren Stücken, die gehört werden wollen: “I Call For You, Cultivation Of Strings.“ (Ich rufe euch an, Kultivierung der Saiten.)
Aber auch hier fliegen die Tasten, fließendes Glück, dann aber wieder kurzes Ausharren in den schwarzen Tiefgaragen unseres Daseins. Diese Musik weiß Wege zu vermitteln, streckenweise auch ohne Text, leitet an, geht selbst voran, bekennt sich zu drastischen Zuständen, lotet Albträume aus – und Träume. Die Musik von Kris Davis nimmt nicht unter Beschuss, aber muss immer weiter gehen, zum Beispiel: Ein Gitarrensolo grätscht ein, mischt sich in die Kraterlandschaften von „Corn Crake” (vom 2019er-Album „Diatom Ribbons“).
Eine Vielzahl außergewöhnlicher Alben hat Kris Davis seit ihrem Debut “Lifespan” aus dem Jahr 2003 produziert; damals hat sie noch alles selbst eingespielt beziehungsweise verantwortet, doch schon beim Nachfolger “The Slightest Shift” entdeckte sie die Vorzüge des Teamplayings: zusammen mit Tony Malaby, Eivind Opsyik und Jeff Davis gelangen spannungsgeladene Jazz-Nummern, die auch den Solo-Stücken des Albums wieder Luft zum Atmen geben. Aber auch das aktuelle “Blood Moon”, dass in Kooperation mit Ingrid Laubrock im Jahr 2020 entstand, kennt noch diese reduzierten Momente.
Kris, Du hast in einem Interview mal gesagt, Jazz sei für Dich Selbst-Ausdruck durch Sound. Wann ist ein Sound für Dich gefunden? Und woran erkennst Du, dass ein Song fertig ist? Gibt es diesen Zustand überhaupt?
„Ein Stück ist nie wirklich fertig, denn es hängt von den jeweiligen Musikern und deren Interpretation ab. Wenn ich ein Musikstück schreibe, betrachte ich es immer nur als zu zwei Dritteln fertig. Das letzte Drittel besteht darin, es den Improvisatoren zu zeigen, um zu sehen, wie sie es interpretieren. Ich genieße das Kollaborieren. Das Schreiben für Improvisatorinnen und Improvisatoren bietet mir immer ein gewisses Maß an Kollaboration, je nachdem, wie viel ich schreibe oder nicht schreibe. Es hängt einfach von den Musiker und dem Konzept des jeweiligen Stücks ab.
Jazz ist das ständige Streben nach der inneren Wahrheit einer Künstlerin und eines Künstlers. Als ich die Tradition erlernte, gab es darin einerseits gewisse Elemente, die ich liebte und mit denen ich mich im Einklang fühlte, und andererseits auch Elemente und Musikregeln, die ich nicht so sehr mochte. Als ich begann, alle möglichen Musiktraditionen zu studieren, nahm ich alle diese geliebten Elemente und mischte sie. Ich schaute mir auch meine Persönlichkeit und meine Fähigkeiten als Pianistin an und ließ dann bestimmte Elemente aus beiden in meine Art zu spielen miteinfließen. Improvisierte Musik gab mir die Freiheit und eine Plattform, diesen Prozess zu durchlaufen, und das ohne Vorgaben mit bestimmten Erwartungen an eine Tradition. Jazz ist dies und dies, aber das kann er nicht sein – ich mochte diese Regeln nicht in dem Genre. Improvisierte Musik und Komposition ermöglichten es mir, meine innere Wahrheit zu finden und andere Einflüsse, andere Traditionen einzubringen.“
Du spielst bei der Monheim Triennale. Was können wir erwarten? Welche Art von Shows spielst Du? Welche Kollaborationen? Weißt du das schon?
Ich spiele zwei Shows, eine mit meiner langjährigen Kollegin Ingrid Laubrock als Duo, die andere mit einigen Nachwuchsmusikerinnen, von denen zwei meine Studentinnen waren. Ingrid und ich arbeiten seit 15 Jahren zusammen, zuerst in einem Trio mit Tyshawn Sorey und dann in vielen anderen Projekten. Vor der Pandemie haben wir das Duo-Album „Bloodmoon“ veröffentlicht. Daraus werden wir einige Stücke in Monheim aufführen. Das Quartett besteht aus Milena Casado an der Trompete und Ivanna Cuesta am Schlagzeug (beide waren meine Studentinnen und haben kürzlich ihr Studium am Berklee College in Boston abgeschlossen) sowie Noah Garabedian am Bass. Ich wollte aus mehreren Gründen mit dieser Gruppe kommen: Ich möchte mehr jungen Menschen die Möglichkeit geben, zu spielen, und sie in eine Gemeinschaft von Improvisatorinnen und Improvisatoren einbinden. Es gibt eine vielfältige Szene für improvisierte Musik und ein engagiertes Publikum dafür, und ich möchte, dass diese tollen jungen Musikerinnen und Musikern diese Szene erleben. Ich wollte außerdem die Möglichkeit haben, meine Fähigkeiten als Bandleader mit jungen Leuten zu verbessern und so habe ich neue Musik für diese Gruppe geschrieben, die wir in Monheim uraufführen werden.“
Warst Du schon einmal in Deutschland?
„Viele Male! Ich habe in Deutschland mehr gespielt als irgendwo sonst in Europa. Deutschland hat ein engagiertes, kenntnisreiches Publikum – es ist immer eine Freude für mich!“
Warum bist Du nach Boston umgezogen?
„Ich bin nach Boston umgezogen, weil ich zusammen mit Terri Lyne Carrington in Berklee ein Programm namens „The Institute of Jazz and Gender Justice“ leite. Die Mission des Instituts ist es, das Patriarchat und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Jazz abzubauen.“
Hast Du irgendwelche Rituale, die dir helfen einen Song zu komponieren?
„Beim Spazierengehen oder Autofahren kommen mir meistens Ideen für Stücke. Bewegung und Wiederholung haben etwas, das zu Ideen führt und Raum für den kreativen Prozess schafft.“
Wir leben in ökonomisch schwierigen Zeiten. Neoliberale Strukturen machen es schwer, von der Kunst zu leben. Hattest Du schon einmal Probleme, Deine Miete zu bezahlen?
„Ja, natürlich. Als ich nach New York zog, war es sehr schwierig. Zu Beginn durfte ich nicht arbeiten. Als ich mein Arbeitsvisum dann bekam, unterrichtete ich drei Tage pro Woche an einer kleinen Musikschule und konnte davon kaum meine Miete bezahlen. Ich lebte mit vier Personen in einer Zweizimmerwohnung (ich wohnte im Wohnzimmer). Dort gab es Kakerlaken und Mäuse. Es war hart. Ich machte mir Sorgen, das Leben würde immer so sein. Aber nach und nach wurde es besser. Ich fand eine bessere Arbeit und bekam mehr Möglichkeiten zu komponieren und aufzutreten. Kurz vor der Geburt meines Sohnes konnte ich von meiner Kunst leben, auf Tournee gehen und auftreten. Aber all das änderte sich, als mein Sohn geboren wurde. Ich musste zu Hause sein und konnte nicht mehr so viel auf Tournee gehen. Also fing ich an, an der New School und in Princeton zu unterrichten und ein wenig vom Home Office zu arbeiten, und ich wurde wählerischer bei der Auswahl meiner Reiseaktivitäten.“
Wie hat sich die Pandemie auf Dein Leben ausgewirkt?
„Die Pandemie hat mich eine wichtige Lektion über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben gelehrt. Vor der Pandemie war mein Leben sehr unausgewogen. Ich habe ständig gearbeitet und bin nach Hause geeilt, um Mutter zu sein. Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich beide Rollen nicht gut erfüllte. Die Pandemie hat mir Zeit gegeben, mein Leben neu zu bewerten und neu anzufangen. Ich habe herausgefunden, wie ich ausgewogener leben kann, indem ich meine körperliche und geistige Gesundheit an die erste Stelle setze. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt stärker und produktiver bin und meine Energie auf die Bereiche meines Lebens richten kann, die mir am wichtigsten sind.“
Man wundert sich fast ein wenig, dass auch eine Kris Davis sich noch mit den „normalen” Problemen von einer Work/Life-Balance herumschlagen muss. Und natürlich mit dem „Klassiker” des modernen Mutterseins: Schuldgefühle; Gefühle nicht zu genügen, sowohl bei der Arbeit, als auch beim Kind. Aber toll, dass sie die Pandemie dazu nutzen konnte, sich diesen ganzen Zumutungs-Spuk mal von außen anzuschauen. Man darf bei diesem Musikerinnen-Typus, der so gut ausgebildet ist, und der in der heutigen Musikszene sehr häufig vorkommt, nicht vergessen, dass es sich dennoch um das gute, alte Pop-Nomadentum handelt, wo feinsinnigste künstlerische Ausrichtung nicht vor ökonomischen Zwängen schützt.
Man kann das Prinzip dieser Lebensführung auch in den neuen Songs hören: Gerichtete Energie! Einbezug aller sensorischen Möglichkeiten. Yeah, das ist es, so kann man den Sound von Kris Davis auch beschreiben. Entdeckt ihre Alben!
Kris Davis, danke für das Interview.
Danke Dir!”