Kolumne von Kersty
Das Einzige, was noch glücklicher macht, als einen Roman zu schreiben, ist zu wissen, oder zumindest zu ahnen, dass man einen Roman zu Ende geschrieben hat!
Heute ist der Tag, von dem ich seit vielen Jahren geträumt habe. Denn beim Aufwachen ist mir ein ungeheuerlicher Gedanke gekommen: kann es sein, dass mein Roman fertig ist? Gestern Nacht habe ich die letzten Korrekturen gemacht. Ihn zum ersten Mal an Leute oder Engel aus dem Literaturbetrieb geschickt, damit sie ihn eintüten, bewerten, einfach erstmal lesen. Ich bin ich mir noch nie so sicher gewesen, dass er gut geworden ist, wie bei der Abgabe dieses Romans. Zum ersten Mal habe ich während des Schreibens mit keinem Menschen, nicht einmal mit meiner Schwester, darüber gesprochen, was ich warum und wie schreibe.
Seit Jahren mache ich das Buch mit mir selber ab. Lese, schreibe, redigiere, laufe, träume mit den Figuren. Jetzt fühle ich mich seltsam, nicht leer, einfach seltsam. Beinahe so als würde ein Lebensabschnitt zu Ende gehen. Muss ich etwa nie mehr an das alles hindenken, die Romanhandlung vorantreiben, Schutt abtragen, auf all den lärmigen Baustellen?
Ich will diesen Roman seit dem Jahr 2018 schreiben. Seit 2015 habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht so ein bestimmtes Gefühl von Begehren und von einer unheimlichen Freude aufzuschreiben. Und all die Politik.
Erst Anfang 2020 hatte ich die Kraft und Inspiration das erste, längere Kapitel zu schreiben. Es begann mit einer Stunde am Tag, jeden Tag. In den letzten anderthalb Jahren habe ich dann circa 80 Prozent des Romans geschrieben. Es ist deshalb nicht ganz wahr, dass ich seit vielen Jahren von diesem Tag geträumt habe. Ich habe vielmehr davon geträumt, diesen Roman zu schreiben. Ich wollte ja in diesem Prozess des Schreibens sein! Der Weg ist das Ziel beim Schreiben.
Es war wirklich eine tolle Zeit. Wenn auch unendlich schwierig und zeitintensiv. Aber einfach damit fertig sein. Einfach durch sein. Nicht mehr an diesem Roman schreiben müssen. Das kann ich mir beim besten Willen noch nicht vorstellen. Es fühlt sich so neu an. Ich werde jetzt meine Wohnung aufräumen, in Anbetracht der Tatsache, dass ich ein Buch zu Ende geschrieben habe, sieht es hier gar nicht mal so schlimm aus. Nur Kleiderberge, die üblichen. Zettel und Notizen schon im Abfall. Trotzdem fehlt etwas, wenn ich mich so umschaue. Vielleicht Schnittblumen oder eine Freundin meiner neuen Stoffpuppe. Ich habe mir nur die weiße Puppe gekauft, letzte Woche im mexikanischen Stoff-Shop.
Ich denke gerade, dass ich mich aus einer kleinen Vor-Manie herausgeschrieben habe. Hypomanie. Ich fühle mich beinahe selbst aufgeräumt, ruhig und matt, und doch auch mit ein paar Schmetterlingen, Schnittblumen im Kopf. Es fühlt sich nicht so an, als wäre da eine eigene motorische Kraft dahinter, sondern mehr so, als wenn man auf die anatomische Abbildung von Blutgefäßen schaut, die sich beim Singen plötzlich in Elfen verwandeln, ihr florales Prinzip offenbaren. Man fühlt sich eher so pflanzlich, wenn man ein Buch geschrieben hat, mit Rainald Goetz gesprochen.
Jetzt muss erstmal wieder Schwung und Euphorie in die Sache kommen. Ich bin bereit für diesen Roman zu kämpfen wie eine Löwin. Oder Tigerin, das klingt besser. Aber vorher will ich einfach nur Faulpelz sein, Faulpelzin? Ich glaub, ich will gerade nicht arbeiten. Es ist krass an einer großen Sache dran zu sein, über so viele Jahre. Man hat nie frei, man kann immer noch an den Roman denken oder den Roman schreiben.
Dabei ist er nicht einmal besonders lang geworden. 250 Seiten. Während man schreibt, denkt man immer: ich schreibe ein ganz kleines Buch. Aber gestern als Sandra das Manuskript zum ersten Mal gelesen hat, und so begeistert davon war, dachte ich plötzlich: vielleicht ist es ja ein großes Buch.
Ich werde mich bald wieder um mein kleines oder großes Buch kümmern. Jetzt erstmal nur begreifen, dass es abgeschlossen ist. Auch wenn da jetzt noch Korrekturen kommen. Hier und da noch etwas dazugeschrieben wird. Das weiß ich jetzt schon, da müssen noch ein paar Absätze rein. Ich weiß schon, ich hab Inhalte oder Details ausgelassen, die ich noch ergänzen muss. Aber ist doch egal. Es wird pro Tag nicht mehr als eine Stunde dauern. Endlich hab ich mein Leben zurück, indem ich jede Tätigkeit nur eine Stunde mache. Ich bin durch. Ich habe etwas hinter mich gebracht. Jetzt beginnt mein neues Leben mit, aber auch ohne den Roman. Jetzt kann ich wieder, mit den anderen zusammen, am neuen The Doctorella-Album arbeiten, und mein Gesangs-Studium fortsetzen.
Jetzt muss ich wieder von vorne anfangen zu träumen. Das klingt unheilvoller, als es ist. Mir wird gewiss eine Menge einfallen. Aber, pssst, sage ich zu mir selbst: bitte denke dir nicht sofort einen neuen Roman aus. Da fällt mir ein: der Nachfolgeroman ist ja schon zu Ende geträumt. Ich konnte den hier nur schreiben, weil ich den nächsten schon im Kopf habe.
Band 2, ich komme.
Nach dem Roman ist vor dem Roman? Der Frühling kommt. Die Sorge um den wichtigen Ausschnitt der Wahrheit, das Dranbleiben an den kleinen Zeichen der Wirklichkeit, das Beschnuppern alles seltsamen Neuen: es hat zu einem Ergebnis geführt.
Eine Weile hänge ich noch an meinem alten Traum. Ich werde ihn den Lesenden mitgeben, damit er sich zu ihren Träumen dazugesellen, sich in etwas Anderes verwandeln kann.
Und am Ende dieses Textes mal ganz unpathetisch gesprochen: das Einzige, was noch glücklicher macht, als einen Roman zu schreiben, ist zu wissen, oder zumindest zu ahnen, dass man einen Roman zu Ende geschrieben hat.