von Kerstin Grether
Heute fiel mir diese kleine Erzählung über meine Jugend mit und in der SPEX in die Hände, die ich vor drei Jahren anlässlich von „35 Jahre Spex“ in der Juli-2015-Nummer geschrieben habe.
Neulich habe ich Hermann Hesses berühmte Erzählung „Demian – die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“ entdeckt. So ein schönes, verblüffend androgynes Buch über die Jugend habe ich lange nicht mehr gelesen! Obwohl es vor ziemlich genau hundert Jahren geschrieben wurde, und damals die strengeren Moralvorstellungen herrschten, identifizierte ich mich sofort mit dem Abenteuer suchenden Sinclair bei seinem Versuch die gefährlichen Schönheiten des Daseins zu erkunden. Dabei steht ihm ein intelligenter, erwachsener Freund zur Seite. Ich fragte mich, ob ich in meiner Jugend auch einen Demian hatte, der sein Licht durch das Dunkel meiner ewig taumelnden Existenz schickte, mein Schicksal mitbestimmte? Denn ich kann der romantischen Idee Emil Sinclairs etwas abgewinnen, dass man nur zu sich selbst findet, wenn man sich in einem anderen sucht.
Ja, wer war eigentlich der Demian (oder die Demiane) meiner Jugend? Es müsste ein unverschämt selbstsicherer Mensch gewesen sein. So eine Mischung aus Dämon und erwachsenem Seelenverwandten. Einer, der den Autoritäten seiner Zeit die Stirn bot und darüber selbst zu einer Autorität im Selber-Denken; Fühlen und Träumen geworden war. Weil er auf all die großen Menschheitsfragen eine Antwort hatte, und wenn es nur die war, dass die Antworten der Herde beknackt sind: „Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Schicksal: dass jeder von uns so ganz er selbst werde“, berichtet Sinclair über das kleine Grüppchen andersdenkender und anderslebender Zeitkritiker, das schließlich seinen Weg kreuzte.
Es ist schon praktisch, wenn die Eltern sich scheiden lassen, wenn man gerade in die Pubertät kommt. Ich verließ die dunkle Idylle meiner Kindheit mitsamt ihren lieblichen Himbeersträuchern
und zog mit meiner Mutter und meiner Schwester vom Dorf in die Kleinstadt. Aber auch auf der neuen Schule gab es wieder nur Konservative und Ökos. Ich nannte sie der Einfachheit halber alle Nazis und Spießer. Aber das änderte nichts an so einem fröhlich-irrealen Gefühl von Freiheit, das mich in Bewegung setzte. Denn die Bürde des Besitzes war von mir gefallen, der ganze falsche Plunder meiner unheilen Kindheitswelt einfach weg! Statt einer protzigen Einbauküche hatte der 24-jährige Freund meiner 42-jährigen Mutter uns Bauernschränke gebaut und bunt angemalt. Statt Familiencouch gab es Korbmöbel und Ledersessel. Jetzt wollte ich nur noch mit der Wahrheit schlafen. Ich fühlte mich wie in einem Madonna-Video. Oberflächlich, aber deep.
Den Refrain von Hesses „Demian“ kannte ich da freilich schon: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.“ Dieser Leitspruch war an die Ökos gefallen. Vielleicht auch an die Rechten. Auf jeden Fall aber an die bürgerliche Kulturbetriebsscheiße. Ich sehnte mich nach neuen Schriftstellern und Geistern, nach neuen literarischen Refrains, die meine Welt erschüttern konnten. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Meine Welt war schon zerstört. Und Scherben bringen Glück! Der Bahnhof war näher gerückt. Das neue Städtchen lag nur eine Viertelstunde von echten Großstädten entfernt. In dem Örtchen selbst gab es nur eine kleine, saubere Disco mit Gummibäumen und Engtanzrunde. Aber irgendwann bekam meine Schwester Lokalverbot und wir fuhren immer häufiger zu Konzerten in die Underground-Clubs der Umgebung.
Ich hatte aufgehört, mein Glück an das der Herde zu binden und angefangen, nur noch meine eigenen Träume für wahr zu halten – auch wenn so ein Traum viel von einem abverlangt, weil er sich erst in der Zukunft zu einem vollständigen Bild zusammensetzen lässt. Meist saß ich allein im Kaminzimmer; einem Kellergewölbe, das nur Feuer und Stein war und träumte mich irgendwo hin, wo es außen hässlich und innen schön war: Punk, Hardcore-Metal, New Wave, HipHop, der Underground. Das war Musik, fernab von der erlaubten Welt der Charts. Es gab da eine Zeitschrift, die hieß SPEX. Die hatte ich am Bahnhof entdeckt, die kam jetzt jeden Monat zu mir ins Kaminzimmer. Mit wachen Augen starrte ich in das Feuer und malte mir die Boheme á la SPEX aus. Die SPEX war voll von angeberischen und zickzackigen Wahrheiten über die Zeit, in der wir lebten. Man schrieb in einem Wirr-Warr aus ganz einfachen, frechen Sätzen und dann wieder so hochgestochen, dass ich es beim besten Willen nicht verstehen konnte. Aber so musste der Sound einer neuen Zeit wohl klingen, fühlte ich mehr, als dass ich es dachte. Das Ding trug ja den Untertitel „Musik zur Zeit.“ Ich hatte schon in meiner Kindheit allerlei Musik und Teenie-Zeitschriften gelesen, aber die waren alle aus der grässlichen hellen Welt. Die SPEX hingegen berichtete aus der schönen kaputten Welt. Sie war Anti-Öko, antinationalistisch und Anti-BWL-Spießer. Ein punkiges Boogie Wonderland!
Die SPEX-Propheten wie Clara Drechsler und ein komischer Vogel, der wohl Diedrich Diederichsen hieß, waren wahrscheinlich Sozialisten, wenn nicht gar Kommunisten. Sie spotteten gegen eine herrschende Klasse, anstatt gegen Kleinbürgermädchen, die die falsche Musik hörten, wie die anderen Musikzeitschriften. Plötzlich entdeckte ich in unserm Kleinstadtbahnhofskiosk sogar ganze Bücher aus diesem Spirit heraus: Kathy Acker, Julie Burchill, Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz.. Diederichsen träumte von etwas so Widersprüchlichem wie einem „einigermaßen organisierten Bohemia-Leben.“ Die dunkle und die helle Welt in einem! Im Nachwort seines Buches „Sexbeat“ schrieb er: „Ich mag weder die, die sagen, sie gehörten keiner Schule oder Partei an, noch habe ich je Spaß daran gehabt, in der Terminologie einer Schule oder Partei zu denken.“
Und als mein Kunstlehrer mich dabei erwischte, wie ich unter dem Schultisch in dem feuerroten Buch blätterte, las er laut ein paar Sätze daraus vor und empörte sich über die unfassbaren Unverschämtheiten dieses Autors, den er gar nicht einzuordnen vermochte. Das war wohl das Beste daran! SPEX kam wie eine komplette Geheimgesellschaft auf uns zu. Und die kleinen Jungs und Mädchen in der Klasse, denen ich mich auf einmal unendlich überlegen fühlte, kicherten nur dumm herum, weil das Buch „Sex“ im Titel hatte.(Mein eigenes Geschichtenbuch aus der Boheme nannte ich später, in Anlehnung daran, „Zungenkuss“.) „In Bohemia gibt es nur 814 Charaktere, die sich ad nauseam wiederholen.“ Da half nur eins: nach der 10. Klasse Köfferchen packen und ab nach Köln zur Bohemia!
Einmal rief ich Clara Drechsler an, in einem Anflug von manisch-depressivem Irresein. Ich war mittlerweile schon so gut wie befreundet mit diesem androgynen Fabelwesen meiner Sehnsucht. Sie checkte was mit mir los war und versprach, mir eine Hühnerbrühe zu kochen. „Denn das hilft oft schon, ein warmes Süppchen auf leeren Magen“, versprach sie am Telefon, in ihrer unnachahmlich großzügigen und zugleich strengen Clara-Art. In meiner Aufregung hatte ich vergessen, sie nach ihrer Adresse zu fragen. Aber als ich dann im Taxi saß spuckte mein psychedelisch arbeitendes Hirn trotzdem die Antwort aus. Denn die Drechslerin hatte ja selbst einmal in einem Anthologie-Beitrag ihre Straße und Hausnummer verraten! Ich kam trotzdem nicht an. Denn wie Emil Sinclair war ich noch nicht lange genug um ihr Haus gestreift, um schon eintreten zu können und etwas so profan Besonderes wie eine Hühnersuppe mit ihr zu essen.
Als man mir Jahre später, mittlerweile hatte ich Abitur, einen von drei wertvollen Haustürschlüsseln zur SPEX-Redaktion aushändigte, hatte ich die Ehre über zwölf Kulturseiten pro Monat zu bestimmen. Und ich hatte tatsächlich alle 814 Charaktere der Boheme kennen, hassen und bisweilen sogar lieben gelernt. Nichts erleichterte mich so sehr wie den teuren Schlüssel zur heiligen SPEX in meiner Jeansjacke zu wissen. Das Weiter, von dem in „Sexbeat“ so viel die Rede war, selber in die Hand zu nehmen!
Nach ein paar tollen Jahren als Redakteurin ist mir aber der Schlüssel abhanden gekommen… Ich glaube fast, er ist mir in einer winddurchbrausten, kriegerischen Nacht in den Gulli vor dem Redaktionsgebäude der Aachener Str. 40-44 gefallen. Wie ein Stern, der vom Himmel in einen schwarzen See stürzt. Oder hatte ich ihn absichtlich da hinein plumpsen lassen? Wollte mein Unbewusstes etwa diese verhexte und mächtige Instanz, zu der die Spex für mich geworden war, zu der ich selber geworden war, kurzerhand wieder loswerden? Bald darauf kündigte ich meinen Job. Die SPEX, mein Demian! Fast so etwas wie eine zweite Kindheit hatte ich mit ihr durchlebt. Und nun? Ein neuer Rausch sollte kommen! Der Vogel musste sich mal wieder aus dem Ei kämpfen. „Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunklen Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Demian gleicht.“
(SPEX, Juli / August 2015)