von Kersty
AUSGANGS-SPERRE
OUT OF CONTROL
OUT OF CORONA
INTO VORSTADT
Immer gegen Morgen, es ist wieder der letzte Traum der Nacht, träume ich
Horror, der ganz horror-harmlos beginnt.
Die U-Bahnen haben in dieser ersten Nacht der Ausgangs-Sperre keine Dächer mehr, oder einfach nur auf Hochbahn-Betrieb umgeschaltet. Jedenfalls, es regnet herein wie in ein offenes Cabriolet. Ich muss trotzdem zum Ku`damm ins Kino fahren. So mitten im Regen zu sitzen fühlt sich an, als ob ich dafür bestraft würde, mich weiterhin draußen zu bewegen. Aber ich muss doch, ich muss, ich muss doch noch den Aufsatz schreiben, fürs Englisch-Abitur! Ich fühle mich wie auf einem Kettenkarussell, werde hin und her geschüttelt, changiere zwischen Verzweiflung und Hochmut. It´s Thriller-Time. Die Kleider kleben auf meinem Körper, es ist nass, aber seltsamerweise ist mir nicht kalt. Noch fröstle ich nur innerlich, denn ich habe keinen Cent mehr in der Tasche, und auch kein Handy. Keine Freundin in der Nähe, keinen Freund, und auch keine Schwester. Es wird immer dunkler, in dieser blauen Stunde, wir fahren stadtauswärts.
Um mich herum jede Menge ausgelassene, lachende, scherzende Ausgehleute. Es geht hoch und runter wie in einer Achterbahn. Der Grund, warum ich überhaupt zum Ku`damm gefahren bin: ich habe mir im Kino einen Film ansehen wollen, um noch in derselben Nacht den Abitur-Aufsatz darüber zu schreiben. Vor der Filmvorführung saß ich in der Umkleide-Kabine der Hauptdarstellerin herum. Denn es handelte sich zwar um einen Film, der vorher abgedreht worden war, aber sie würden ihn trotzdem live auf der Bühne vorführen. Die Schauspielerin war sehr unfreundlich zu mir, obwohl wir uns am Nachmittag noch total gut verstanden hatten. Ich wurde immer ungeduldiger, und fühlte mich immer unverstandener, denn es wird ja wohl noch Stunden dauern, bis der Film endlich losgehen würde. Ich trieb mich auf den Treppen des Kino-Gebäudes herum, ein Bedrohungsgefühl, kalt und glitschig wie ein riesengroßer Wal, schwamm an mir vorbei und ich registrierte zum ersten Mal am heutigen Abend, dass ich ja gar keine Maske trage. Und ich hatte auch keine dabei.
Plötzlich geriet ich in Panik, und ich ärgerte mich, dass ich mich, nur ein, zwei Monate bevor ich endlich eine Corona-Impfung bekommen würde, in so eine unnötige Gefahren-Situation gebracht hatte. Nur wegen dem blöden Abitur-Aufsatz. Aber da es sich um mein Lieblingsfach “Englisch” handelte, und ich unbedingt den besten Aufsatz in der ganzen Klasse schreiben wollte (wie immer), lief ich, wie ferngesteuert und hypnotisiert, auf dem großen Areal des Kinogeländes herum, immer kopfloser, immer planloser, in eine Zukunft hinein, die ich selber nicht mehr verstand.
Ich schlug mich nochmal zu der Hauptdarstellerin durch und fragte sie, ob sie vielleicht eine Maske für mich hätte. “You mean a shield?” fragte eine Stimme im Hintergrund. “Ja“, sagte ich, „ich brauche bitte eine Maske, sonst kann ich den Film nicht sehen.” Man lachte aber über mich, alle Leute im Raum lachten mich jetzt aus, und so machte ich, dass ich rauskomme. Draußen war jetzt aber schon die Ausgangssperre. Neben mir im U-Bahn-Karussell saßen drei ziemlich nach Schweiß stinkende Männer, die mich direkt belästigten, die ich aber wohl ziemlich gut konterte. Ich registrierte, dass wir aus der Stadt herausfuhren, glaubte aber immer noch, dass ich den Aufsatz heute Nacht noch schaffen würde. Während wir im Starkregen versanken, sprach ich in Panik eine Gruppe von drei jungen Mädchen an, die neben mir saßen. Ich erzählte ihnen, dass ich ganz dringend eine Penn-Adresse für die Nacht bräuchte und dass ich nur hier so schutzlos gelandet war, weil ich doch noch einen Schulaufsatz schreiben musste. Sie waren sehr nett und erlaubten mir bei ihnen zu übernachten, wenn diese endlose Fahrt endlich zu Ende wäre, denn allmählich versanken wir alle zusammen im Schlamm. Ich war erleichtert, dass die jungen Mädchen mich verstanden, und wunderte mich darüber, dass mir trotz der Kälte immer noch so warm war. Ich wachte auf und begriff allmählich, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Dann fiel mir ein, dass meine Englischlehrerin mich in meiner Oberstufen-Zeit ja einmal zu sich nach Hause eingeladen hatte, und total viel Auffangen und Hilfe an diese Einladung geknüpft hatte. Ich aber hatte damals Angst vor dem Weg aus der Stadt heraus, in die Kölner Vorstadt, und bin deshalb einfach nicht hingegangen.
Sie hätte mich einfach nur ins Café um die Ecke einladen und mit mir reden müssen. Anstatt es mir so schwer zu machen, ohne es zu merken, einfach mal sagen: „Du hast offensichtlich so große Probleme, wie können wir dir helfen?“ Hilfe wäre so einfach gewesen!