von Kersty
HINTER DIE WELT
Asozial 1
“No Tears for the creatures of the night”
An dieser Stelle erstmal eine Riesenempfehlung für die tolle, radikal-ehrliche, emotional aufwühlende Biographie von Bill Kaulitz, für alle, die schon immer alles ganz genau wissen wollten. Anstelle einer Rezension bin ich jetzt aber in meine eigene Dorfkindheitsabbruchhaushöllenjugend gestolpert. Frühreif und so, mobbing-garniert. Deshalb hier eher eine literarische Notiz, mit Tokio Hotel im Ohr. Aber man darf sich nicht zu sehr verwechseln. Kann mich nicht daran erinnern, mit Doctorella auf den großen Bühnen dieser Welt gespielt zu haben. Aber egal. Hauptsache, wir sind durch den Monsun.
Sonja ist den ganzen Weg nach oben gerannt, vorbei am graffiti-besprühten Eckhaus des neuen Kunstlehrers, irgendwo in der Luft noch die Ideen gespeichert, dass man wohin fahren und sich mit tollen Leuten die Zeit vertreiben könnte.
Wenn ich alles auf der Welt umsonst haben könnte, überlegte sie, ich würde es mit keinem teilen, außer mit mir. Diese anregende Friedlichkeit. Nichts sah so aus als benötigte man das Flirrende, Fahrige um sich herum.
Sie fühlt sich plötzlich wieder so verzaubert wie eine verwunschene Heldin aus einem ihrer Lieblings-Internat-Bücher. Als wäre „Dolly“, das sogenannte „Fräulein“ von Burg Möwenfels, getürmt, ausgerückt aus dem lustigen, lehrreichen und, vor allen Dingen:
Ich muss durch den Monsun, hinter die Welt.
Im Möbelauto, vorn auf dem Sitz, aneinandergedrückt, sind sie dann die 200 km gefahren, weg von allem, ohne Pause und Stau, weg vom Alten, und ohne ein einziges Gefühl von Verlassenheit.
Und keine Tränen.
Ich muss ja gar nicht weinen, hat Sonja sich plötzlich gewundert, als das Radio einmal fünf Minuten das Musikprogramm für eine News-Strecke unterbrochen hat. Andere Mädchen würden bestimmt weinen, wenn sie die Orte ihrer Kindheit verlassen.
Ans Ende der Zeit, bis kein Regen mehr fällt
„Tick ich eigentlich noch richtig?“ fragt sie sich angesichts all dieser großen Gefühlsmenschen, und auch Dolly weinte bei Abschieden gewöhnlich heiße Tränen.
Nur sie nicht, no fear, no despair. Dann waren Nachrichten, Wetter und Verkehr vorbei und vergnügt ging`s weiter, ein bombastisches, kühl-pathetisches Lied folgte:
” I find it kind of funny /I find it kind of sad / the dreams in which I`m dying / are the best I`ve ever had.”
Sonja träumt jetzt nur vom Neuen vor sich hin; und davon, keine Angst zu haben, keine Angst, keine Angst, nie wieder Angst, bitte.
Wenn sie drei Wünsche frei hätte: nie die Angst, nie die Angst, nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie nie mehr diese Scheißangst.
Alles Neue: wow!
Magisch, alles Neue! Und so saß ein komisches Vertrauen munter im Umzugsauto und baumelte hoffnungsfroh in Fahrtrichtung, wie vorne am Erste-Hilfe-Kasten der alte schmutzige blaurote Stoffhund mit den langen Schlappohren.
Und wenn ich nicht mehr kann, denk ich daran
„Muss noch viel renoviert werden hier, kostet eine hübsche Stange Geld. Ihr müsst vieles neu herrichten. Hier sieht`s ja unmöglich aus.“
Und der Facharbeiter sah vergilbte Tapeten, alten Bodenbelag, eine sehr steile Treppe, die nach unten in die Wohn- und Schlafzimmer führte.
So eine Treppe hat Sonja bisher noch nie gesehen: wie in einer klassischen Burg, vielleicht oder in einem rätselhaften Märchenschloss im Wald, vor der Jahrhundertwende.
„Die Treppe ist eine Anlaufstelle für die Lebensmüden,“ korrigierte da der Facharbeiter sarkastisch. „Da würde ich nicht freiwillig runterlaufen.“
„Auf die Treppe kommt ein dicker Teppich drauf“ verkündete jetzt der Makler, und notierte das in sein Notizbuch und lief mit seinen großen, optimistischen Maklerschritten durch die Wohnung und beruhigte alle mit seinen Lösungsvorschlägen.
Fremde Menschen redeten fachmännisch wichtig über Sonjas neues Zuhause, nahmen gut ausgerüstet mit wichtigen technischen Geräten Maß an diesem Haus, als wollten sie verhindern, dass es sich einfach eines Morgens auf und davonmachte und ins 19. Jahrhundert zurück schlich.
Wollten das Haus renovieren und interessierten sich nicht für seine Seele. Manchmal unterbrachen sie ungeduldig die neuen Eigentümer, weil die dem Haus eine freundliche oder nette Eigenschaft zusprachen.
„Haus würde ich das gar nicht nennen“, sagte der Makler, und wechselte mit gesenkter Stimme kurz Berufsstand gegen Gesunden Menschenverstand aus: „Eher Hütte oder Abbruchhaus.“
Denk Ich Daran:
Der Traum von einem kreativen Künstlerhaus, ja am liebsten gleich eine Kreativ-Kommune. Eine mutige Vision für Magdeburg!
Asozial 2)
“Frances Farmer will have her revenge on Seattle”
DAS GENERALERSCHÖPFUNGSNEIN des Bill Kaulitz
Feminismus in der Literatur bedeutete die längste Zeit, dass das dann keine Literatur sein kann.
„Wir fürchteten eine Schlagzeile wie „Deutschland hasst Tokio Hotel. 60.000 buhen die Band von der Bühne.”
In seiner Biographie schreibt Bill Kaulitz. Schreibt Bill Kaulitz in seiner Biographie… wie autoritär kann eine Umgebung sein?
„Beinahe täglich wurden wir zu Strafpuzzles verdonnert und sollten dabei stundenlang über unsere freche Art nachdenken, mit der wir die Erzieher offenbar maßlos überforderten. Der Hass auf die Lehrer, dieses beschissene Schule und die anderen Schüler mit ihren Eltern wurde immer größer. Ein Teufelskreis!“
Nicht die lässig weggeworfene, „Lauf Davon, Lauf Davon, Und fang irgendwo nochmal von vorne an“- Hip Hop-Liedermacher-Zukunftsangst der bürgerlichen Klasse…
sondern das No zu No-Future,
die knieschlotternde, kalte Schweiß-Zukunftsangst der unteren Schichten.
Und wenn man dann noch als Junge aussieht wie ein Mädchen…
Für die bunten Hunde, die blauen Schafe in den Familien der deep down classes, gibt es seit 2001 „Deutschland sucht den Superstar“ – damit das singende Schaf noch ein bisschen kajalverschmiert, lidschattentreu strahlen darf, bis es sich wieder in die Ecke setzen und SCHÄMEN muss.
„Die Welt wird komplizierter, aber alles, was stimmt, bleibt leicht“, singt Maike Rosa Vogel.
No Future in Echtzeit, paralysierte Bill und Toms Gedanken, und ihre Körper. Schulbeginn, vierte Klasse.
Als der kleine Außerirdische seine neuen Erdfreunde dann verlassen hatte, auf der Leinwand, sind Sonja keine Tränen gekommen.
Dennoch wurde in diesem Moment eine übergroße Zukunftsangst geboren. „Aber die Aufgabe schien groß für zwei Siebenjährige. Was, wenn wir es nicht schafften?“
„All das Selbstbewusstsein, das meine Mutter nie hatte, war mit doppelter Dosis in Hochpotenz in uns hineingeboren. Wir wollten es mit allem und jedem aufnehmen. Ganz egal, wer sich uns in den Weg stellen würde“, schreibt ein tapferer Bill Kaulitz, und auch über den wohl schlimmsten Moment dieser mit bizarrer, ekliger Tragik ja nicht geizenden Horrorkindheit, als seine Mutter ihm erzählte, dass sie nicht sehr alt würde und eine schwere Herzkrankheit habe.
Sonja hätte jetzt ebenfalls am liebsten eine kleine Ansprache gehalten, sie müsste ungefähr so lauten: „Hey Leute, hey ihr guten und bösen Geister von früher, hey, in der neuen Stadt gefällt es mir sehr gut. Super hier. Hey, ihr vernünftigen, coolen Kinder, von früher, wolltet mich wohl zu eurer Sorte hinbiegen oder vereisen oder kriechen sehen, aber…“
Das musste sie ihrer Mama lassen! Das war eine gute Entscheidung: einfach gehen, ziehen, weggehen, losziehen.“
Andere Mädchen würden bestimmt weinen.
BUNTE ENGEL BERLIN
MÄDCHENMUSIK
LOVE CATS
Beitragsfoto: Zwillinge unter sich (Sandra und ich beim Interview mit Bill und Tom, Hamburg Hotel, 2009. Beim sauberen Auskotzen über das Schulhofmobbing im Dorf. Wie es sich anfühlt, von den Schüler*innen und Lehrer*innen gemobbt zu werden, kennen dann wahrscheinlich doch die meisten Leute aus ihrer Schulzeit nicht. Und wie es sich dann auch noch anfühlt, in ein Abbruchhaus zu ziehen. Flucht in den Gesang…)
P.S. Aber ein einziges riesengroßes black questionmark bleibt, nach Lektüre dieser fulminanten Bio: Warum hat Bill Kaulitz kein einziges freundliches, positives, fröhliches, engagiertes, gutes, liebevolles Wort für seine weiblichen Fans übrig? Sie sind doch auch mit ihm durch den Monsum gegangen…