Oder: wie gute Musik und gute Identitätspolitik einmal den ESC rettete
von Kersty und Sandra
Victoria de Angelis, die Frau hier mit dem grünen Bass, hat gestern, gemeinsam mit der Band Måneskin (um Sänger Daviano David ) den Eurovision Songcontest 2021 gewonnen. Noch kurz vor ihrem Auftritt sagte Sandra, “Herrgottzack, ich würde sooo gerne mal EINE Frau auf der Bühne mit einem elektrischen Rock-Instrument sehen, aber das wird`s wohl nie geben.” Und Kersty sagte: “Ach herrjee, jetzt hör doch mal auf ey, immer die Gitarre und den Bass zu vermissen, hier sind doch genug coole Frauen dabei.” Und Sandra nuschelte noch, peinlich berührt von ihren eigenen, immergleichen Visionen, aber schon wieder mit einem Lächeln im Gesicht:” Na ja, EINMAL hat ja sogar eine Frau mit einer Gitarre, akustisch natürlich, gewonnen, Nicole mit “Ein Bisschen Frieden”. 🙂 🙂
Da stürmte plötzlich, als könnte man neuerdings durch Gedankenübertrag Ereignisse auslösen, wie in einem schizophren-überreizten Dauertraum, die ROCKBAND Måneskin die Bühne!
Vorher hatte mit Blind Channel auch schon eine andere Band die Bühne gerockt. Der übliche finnische “Ihr-Müsst-Auch-Mal-Heavy-Metal-Mitdenken”- Beitrag, der nicht ohne Pyrotechnik auskommt; der muss auch immer mal wieder dabei sein, seitdem vor 15 Jahren die Gruppe Lordi mit dem Song “Hardrock Halleluja” den Contest gewonnen hatte. Aber standardisierter Hardrock ist heute eben genauso abgeschmackt wie standardisierter folkloristischer Eurotrash. Denn natürlich hatten auch bei Blind Channel 2021 nur Männer die Mähnen und die Saiteninstrumente geschüttelt. Gähn.
Mit Måneskin sollte der Traum nun also doch noch wahr werden. Eine Bassistin war in der Gang – als ein ganz selbstverständlicher Teil der pathetischen Glam-Rock-Inszenierung, die ja auch in der Rockgeschichte (von Sweet bis T.Rex) bislang eher ohne Frauen auskommen musste. Oder wie die Band aus Rom im Lied “Zitti e buoni” (ich schreib mal die deutsche Übersetzung hin) singt: “Zu viele Nächte war ich ausgesperrt / Jetzt trete ich sie ein, diese Türen / Ich blicke nach oben, wie ein Bergsteiger / Sorry deshalb, Mama / Wenn ich immer draußen bin.” Im Original war der Text natürlich auf Italienisch. Und auch das: toll! Denn wer will von allen Bands immer nur das Pseudo-Fake-Englisch hören? Englisch ist nicht mehr nur die Sprache der Popmusik, es ist nun eben auch so etwas wie die Gebrauchssprache des Neoliberalismus; all seiner Werkzeuge und Schalter. (Wir lieben auf Englisch, und wir kotzen auf Englisch). Das alte Pop-Englisch vom neuen Werbe-Englisch zu unterscheiden, fällt dabei flach. So wundert es auch wenig, dass sich auf den Rängen 2 und 3 (mit Barbara Pravis “Voila” und Gjons “Tout l‘univers” ) zwei französisch-sprachige Lieder platzieren konnten. Als wäre Französisch das neue Englisch. Und, fun fact: Großbritannien belegte den letzten Platz, mit sogar noch weniger Punkten als Deutschland (3), nämlich: Zero.
Aber back zur Story:
Fast genauso wichtig wie die wilde, weibliche* Instrumentalistin, die Part of the Band ist, ist deren Erzählung davon, überhaupt eine BAND zu sein. Denn das war die eigentliche Überraschung dieses ESC: das Publikum hat nicht nur unterschieden zwischen einer guten und einer schlechten inhaltlichen Aussage, sondern auch zwischen einer guten und weniger gelungenen Repräsentation/Vielfalt. Natürlich haben die Jurys diesen Trend verpasst, war ja klar!
Aber eine wirklich inhaltlich verstandene Idee von Identitätspolitik im Leben ganz vieler Menschen, gepaart mit einem guten Musikgeschmack, der keinen Bock mehr auf Retorte hat, hat hier eigentlich gewonnen. (Wenn wir das hier mal so optimistisch überinterpretieren dürfen). Es reicht eben nicht mehr, eine autoritäre, einseitig auf einen Punkt gelabelte, identitätspolitische Aussage zu machen, wie z.B. Malta oder Russland, bei aller Liebe zu den starken Performances. Irgendwie muss auch noch die Musik auf korrektere Weise zustande gekommen sein, als nur durch inhaltliches Kalkül und Herzblut. Man kann eben auch den Feminismus überstrapazieren in einem Songtext, und dann kommt ästhetisch gesprochen eben auch wieder nur “Einheitsbrei” dabei heraus. Interessant in dem Zusammenhang der Vergleich Ukraine und Russland. Während Russland mit Manzihas “Russian Woman” den Feminismus plakativ und farbenprächtig überbetont, wird Emanziptation in dem Beitrag von der Ukraine einfach als alltagsmöglich gelebte Androgynität vorgeführt.
Wobei wir natürlich nichts sagen wollen gegen den direkten und für viele Individuen empowernden Riot Girl Ansatz, das ganze Ding nochmal auszuformulieren! Aber das Publikum ist scheinbar ungeduldig geworden, mittlerweile möglicherweise etwas allergisch auf diese wohlkalkulierten Provokationen. Auch wenn sie tatsächlich echten Hass im Netz hervorrufen. Aber das Identitätsspektakel ist eben auch nicht gerade dazu angetan, Leute davon zu überzeugen, dass es Spaß macht, sich als Feministin zu bezeichnen. Oder andere Wege zu gehen, als die vorgeschriebenen. Dasselbe gilt auch für Malta und den Beitrag von Destiny. Ist es nicht auch diskriminierend vom “Stimmwunder der Schwarzen Frau, mit ein paar Kilos mehr als normativ erwünscht”, zu sprechen? Als wäre das Gesangstalent “naturgegeben”. Damit spricht man der Sängerin indirekt doch noch das (gewordene) Können ab, sie hat das nicht gelernt oder sich in Leidenschaft erarbeitet, sie hat es halt in sich. Wenn Destiny dieses Klischee für sich nutzen will, ist das natürlich toll. Interessant auf jeden Fall: bei Destiny war die Diskrepanz zwischen Juryvoting und Publikumsabstimmung am Größten. Was zeigt, dass die Wirklichkeit der Wirklichkeit immer einen Schritt voraus ist!
Für einen anderen Weg steht vielleicht der ukrainische Beitrag: Go_A`s Song “Shum. Go A wusste geheimnisvolle und bigge Elektroklangwelten zu verbinden, mit einem androgynen und gleichzeitig irrem Environment. Und das ist ja wohl mehr als man von einem ESC-während-der-Pandemie erwarten durfte. Und so hat an diesem Abend die gute Musik und die gut-verstandene Identitätspolitik gewonnen!
Ach so, ihr wisst es längst, nur der Text hier verschweigt es noch. Diese Band Sensation namens Måneskin hat dann tatsächlich mit weitem Abstand den ESC 2021 gewonnen! Dank Publikums-Voting, auch hier. Endlich wieder Live-Musik, auch das eine Aussage, die man nicht ganz ohne den Hintergrund der Pandemie verstehen kann. Noch dazu, wenn der Rock`n Roll von Männern und Frauen mit Kajalstift gerettet wird. Und einem Style, der zwar aussieht wie Glam-Rock, aber eben auch wie zerrissener Indie-Punk im Secondhand-Streetsmartness. Als ob sie, mit der Autorin und Theoretikerin Luise Meier gesprochen, ihr “inneres Proletariat aktiviert” hätten. Und erfahrbar machen, dass zu viel Puder und Glam aber eben auch verlogen sind. “Das Proletariat ist nach erfolgreicher Selbstoptimierung weggepudert, wegfrisiert, abgewaschen, überwunden. Wenn ich mich einmal zusammengerissen habe, wo versteckt sich das Un-Zusammengerissene.”
Und dass man der Rockband aus Rom zutraute, vor einem Millionen Publikum Koks-Lines zu ziehen, zeigt überdies auch einiges darüber, wie gierig die Leute nach anderthalb Jahren Lockdown nach allem sind, was nicht aus der Retorte kommt.
Natürlich werden nächstes Jahr dann alle Rock machen, und natürlich wird dann genau der Moment der Unschuld, wo sich der Toilettenfick vom Rock-Klischee unterscheidet, verloren gegangen sein. Und dann werden wir, wie immer, wenn der Rock`n Roll tausend Tode stirbt, im Nachhinein erst erkennen, was für einen großen Rock`n Roll-Moment wir dieses Jahr doch wirklich hatten. Mit dieser eben genau richtigen Mischung aus Klischee und Anti-Klischee. Und, wenn wir im Geheimen noch eins hinzufügen dürfen: eine nur aus Männern bestehende Rockband kann diesen Moment im Moment nicht mehr auslösen. Yeah!
Zum Weiterlesen auf diesem Blog: