“Viel zu gut für den Moment!”
Meine Manic-Mittwoch-Kolumne, heute mit einer persönlichen Erinnerung:
Genau heute vor 20 Jahren, bin ich nach Berlin gezogen! Mit einem halbfertigen Roman-Manuskript in der ozeanblauen Glitzer-Tasche und einem Song von 2raumwohnung im Ohr: „Wir trafen uns in einem Garten“. So fühle ich mich auch jetzt gerade wieder, wenn ich die Leute nach über einem Jahr Corona-Pandemie vor den Cafés sitzen sehe! Wie eine Neuankommende im Leben. Ich hatte große Pläne, wollte eine berühmte Schriftstellerin werden, und sah mich als Gegenmodell zu den ganzen neokonservativen Obere-Mittelschichts-Glückskinderuniversalisten/Popautoren, die damals die Literaturszene an sich gerissen hatten. Ich wollte mit meinen Texten die Welt verzaubern und verändern, und wenn dann noch ein bisschen Zeit übrig wäre, würde ich auch noch eine Band gründen und viel Singen üben.
Um 15 Uhr war Schlüsselübergabe, in dem schönen Portugiesischen Café, Kastanienallee/Ecke Zehdenicker Straße. Es war Liebe auf den ersten Blick, ich war so glücklich, nach den Jahren in Köln und auf St. Pauli, nun im sonnenhellen, tripgesteuerten Berlin gelandet zu sein.
Eine Stadt, die gelassen ist und ausgelassen, ist genau das was man braucht, wenn man erwachsen werden will, after all. Ich war dauer-berauscht vom Leben hier und vom Filter-Kaffee, den man neuerdings wieder aus Blümchenporzellantassen trank. Irgendwie, wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann frage ich mich nur, WANN und WO ich all die vielen Zeitungstexte, Zeitschriftenartikel und MTV-Moderationen geschrieben habe, mit denen ich damals meinen Lebensunterhalt finanziert habe. Denn ich hatte ja gar kein Sitzfleisch, war ja immer gerade unterwegs, tanzen und flanieren und reden und schauen, staunen. Vielleicht hat diese immer wache Stadt sie mir nachts im Traum diktiert?
Meine Hymne, mit der ich mir weiter alle Ängste und Nöte vom Leib hielt, war „Family Affair“ von Mary J. Blige. Immer wenn ich einen Anflug von Angst oder Unwohlsein verspürte, lief ich durch den Mauerpark und skandierte tänzelnd: „ GONNA HAVE A GOOD TIME. NO MORE DRAMA IN MY LIFE“!!! Dass ich ganz alleine nach Berlin gezogen bin, halte ich mir heute noch zugute, und hilft mir, wenn ich mich mal einsam fühle. Hey, the City she loves me, together we cry.
Dabei stimmt es ja gar nicht, dass die Stadt mich liebt. Sie liebt ja gar nicht die Leute, die aus Süddeutschland herziehen, weil die ihnen ja angeblich die Wohnungen wegnehmen und die Spielplätze kaufen. Seltsam nur, dass die Leute, die ich aus Süddeutschland in Berlin kenne, keinen Cent von ihren Eltern kriegen, nicht mal an Weihnachten ein Ticket zum Zurückfahren, und entweder total verarmt sind oder rund um die Uhr arbeiten oder beides. Aber heute mal: Schwamm drüber. Übrigens meine total überteuerte, 2- Raumwohnung in der Zehdenicker Straße haben vor mir schon 30 Leute besichtigt und abgelehnt, weil sie davon ausgegangen sind, dass sie noch eine bessere und billigere finden. Ich konnte sie mir auch nicht leisten, und habe dann Moderationen für MTV im Akkord geschrieben, wie am Fließband für prekäre Medien-Euphorikerinnen.
Nach 20 Jahren in dieser Stadt würde ich es natürlich niemals wagen, mich als Berlinerin zu bezeichnen. Das überlasse ich allen anderen. Ich bin einfach nur froh, dass ich hier gelandet bin, wollte mich sowieso nie über Städte und Nationen definieren. Trotzdem: so etwas wie den Berliner Traum gibt es. Und ich habe ihn gelebt, ätsch!
In diesem Sinne: Ich muss jetzt los, aus m Bergstübel raus über den Weinbergspark rüber zur Schlüsselübergabe in der Zehdenicker. Selbst der Kaffee schmeckt heute nach Himbeereis.
Und hier noch zwei Zeichnungen mit Tusche, die ich zu dieser Zeit gemalt habe: