Gewalt – Rifflast for Life

von Sandra

Gewalt spielten am Samstag im Berliner Club Lido – endlich die Songs des neuen Albums! „Paradies“ erschien im November letzten Jahres, es war die Platte, die Patrick Wagner, Sänger, Gitarrist, Mastermind, ja eigentlich gar nie mehr machen wollte. Weil Album-Releases doch eh nur eine Enttäuschung seien. Oder so. „Nur Singles“ lautete die  konsequente Devise des ehemaligen Frontmann der legendären Hardrock-Noise-Band Surrogat,  die sich 2003 auflöste, nach Vö des tollen vierten Albums „Hell in Hell”.

Die Sache mit den Vinyl-Singles der 2015 gegründeten neuen  Noise-Sensation lief aber super. Und so war die Sache mit dem Album dann doch wieder nur eine Frage der Zeit. Gewalt verachten die Kompromisse, das machten sie von Anfang an klar, auch schon mit dem Bandnamen. Über den man ja viel diskutieren kann.  Denn wer hat eigentlich je behauptet, Bandnamen müssten immer positive Vibes transportieren? Sie können doch genauso gut auch mal von etwas Negativem handeln und aufrütteln. Aber sowas wohlgediegen Profanes wie „Aufrütteln“ wollen Wagner und seine Mitmusikerinnen, es sind dabei die tollen Helen Henfling an der Gitarre und die tolle Jasmin Rilke am Bass, dann aber auch wieder nicht! Sondern, viel direkter: einfach laut sein! Einfach dagegen sein! Verweigerung! „Verdichtung der Unmöglichkeit und Unentrinnbarkeit unserer Existenz“ sagen sie selber. Dann doch nicht ganz ohne Diskurs-Deutsch 🙂 geht die Benennung des Bandthemas vonstatten.

Einfach alles nicht mitmachen! Und dann eben auch das Musikgeschäft nicht. Wagner war ja lange Zeit Teil  davon,  zunächst als Gründer des legendären Kitty Yo Labels in den 1990ern und frühen 00ern, später kurz als A& R von Universal, dann nur noch Leck mich am Arsch. Diese Geste hat er mit “Gewalt” sofort rübergebracht und das hat dann doch wieder ausreichend vielen Leuten gefallen, aufsehen erregende Videos begleiteten die Single-Releases. Gleich zu Beginn das aufwühlende Gewalt – Szene einer Ehe – YouTube (Man könnte die Musik glatt unter die TV-Berichte vom Gerichtsprozess Johnny Depp/Amber Heard legen).

Scheiß auf alles, außer auf die Wahrheit und die Verweigerung, und Scheiß erst Recht aufs handgespielte Schlagzeug, so lautete die Ausgangslage, in der sich Wagner und Henfling befanden, als sie beschlossen rifflastig, beseelt und grimmig zusammen Gitarre zu spielen. LAUT! Ebenfalls Gründungsmitglied: Drumcomputer DM1. Jetzt thront er in der Mitte der gut lichteffektheißerischen Bühne wie ein echtes Drumset. Verziert mit gewaltigem GEWALT-Schriftzug. Ganz ohne Maschine geht es eben doch nicht, im nicht-ferngesteuerten Leben.

Nach 17 Konzerten in halb Europa können wir euch versichern. We`ll make you dance and we`ll blow your mind,“ verkünden sie, gewohnt großspurig-sympathisch, vorab in den sozialen Medien. Soll bloß keine*r denken, man wäre nicht rumgekommen mit der Band. “Schön, zu Hause zu sein,” nuschelt Wagner jetzt in Berlin, ungewohnt schüchtern, ins Mikro.

 

Jasmin Rilke, Helen Henfling

Sie spielen und sehen aus, in ihren knappen schwarzen lederanmutenden Outfits: Industrial. Aber so als hätten sie das Genre gerade nochmal neu überdacht. Alle immer ON!  Die Dynamik kommt aus dem Schmerz. Das alles wäre natürlich nicht halb so geil ohne die erzählerischen Lyrics, die nur so halb ins Plakative verliebt sind, die ca andere Hälfte flüstert, windet sich, kennt sich mit dem Pain des Außenseiterlebens aus. Weiß aber auch wie es ist, mittendrin zu sein. Dazu passt der lebhaft-virtuose Bass. (Einmal stehen Jasmin die Haare so zu Berge, als wären sie vom Strom des Krachs mitgerissen worden. )

All sowas scheint das (überraschend überwiegend männliche) Publikum zu wissen oder  zu erfühlen;  alle tauchen sie sofort ein in die Musik, einige handbangen sogar so vor sich hin. Manche lächeln wissend. Hier wird nicht gezögert, hier wird einfach gemacht. Wagner, der bei Surrogat gerne ausführliche Zwischenansagen machte, verzichtet  jetzt fast vollständig darauf. Lieder werden nicht erklärt,  Lieder sind;  das Publikum aber immer wieder dazu aufgefordert das Wort „Gewalt“ zu schreien.

Zuerst hört man nur vereinzelte Rufe. Wie die Band so ihr Publikum: das Wort “Gewalt” als affirmative Geste laut in einen Raum zu brüllen, darauf hat dann doch keine* r so wirklich Bock. Erst später, nach wiederholter Aufforderung eines charmanten, humorvollen und auch ein bisschen sentimental aufgelegten Sängers, werden die “Gewalt”- Rufe lauter: es könnte ja doch auch ein Protest dagegen sein. Oder ein Bekenntnis zur Band . Denn Gewalt, die Band, hat vorgelegt:  Paradies, der Album-Titel; ein gutes Gegenwort. Und besser als das ewige „Utopie“ allenfalls. Auf den Mützen, die man am Merch-Tisch  auf dem Flur kaufen kann, steht  dann beides: “Gewalt / Paradies.”

Für mich war es auch ein Wiedersehen mit Jasmin, der Wiener Musikerin und Toningenieurin , vormals Mitglied des 2018 leider ebenso aufgelösten Riot Grrrl / Stoner-Rock-Trio Aivery.

AIVERY – DISREGARD – YouTube

Gutgelaunt plauderte sie über gemeinsame Nachtlebennächte in Wien, als müsste sie gar nicht gleich auf die Bühne. Sie sei sehr froh jetzt bei Gewalt zu spielen, auch bei den Album-Aufnahmen war sie schon dabei; und Patrick gab das Kompliment sofort zurück, in dem er sein bemerkenswertes Talent erwähnte, brillante Musiker*innen für seine Band(s)  gewinnen zu können. Dem kann man nur zustimmen! Und auch das Setting, männlicher Sänger und weibliche Band, gibt’s sonst nur bei Farin Urlaubs Racing Team. Mit dem es ansonsten natürlich wenig Gemeinsamkeiten gibt 🙂  Melodien sind die Sache von Gewalt nicht. Aus deren Sicht sind die Verhältnisse dafür viel zu gewaltvoll. Und niemand kann in ihnen so schön scheitern und arschcool wieder auferstehen wie Patrick Wagner und “seine” Gewalt-Grrrls.

Gewalt – deutsch (Official Video) – YouTube 

 

Patrick Wagner, Helen Henfling

 

Immer in Bewegung

 

Sandra, Jasmin Rilke (Bassistin/GEWALT, Ex-AIVERY), Kersty

Foto made by Patrick Wagner