Eine Liebeserklärung & eine Dekonstruktion des Mythos. Amy Winehouse – zum 11. Todestag

von Kersty

Dieser Text erschien zuerst in der  im Juni 2022 veröffentlichten Anthologie “These Girls Too” (Hrgs Juliane Streich, Ventil Verlag).

 

„Ich will, dass die Leute meine Stimme hören und für fünf Minuten ihre Probleme vergessen. Ich will als Schauspielerin und Sängerin in Erinnerung bleiben.“

(Amy Winehouse im Alter von 12 Jahren)

„We only said goodbye with words/ I died a hundred times/ You go back to her/ And I go back to. / I go back to us“

 

 Amy Winehouse wuchs in einer jazzbegeisterten, jüdischen Familie im Londoner Norden auf. Die Winehouses waren keine von den Familien, die einfach so den Fernseher laufen lassen. Bei ihnen ging es immer um Musik. Vater Mitch Winehouse, ein Taxifahrer, sang die ganze Zeit im Haus – und schon bald stimmte Klein-Amy in den Gesang mit ein. Die Großmutter Cynthia spielte dazu die Platten von Billie Holiday und Ella Fitzgerald. Später sollte sich die Enkelin mit einem riesigen „Cynthia“-Tattoo für die musikalische Inspiration bedanken. Mutter Janis arbeitete als Apothekerin und wird als „distanziert, aber herzensgut“ beschrieben. Schon im Alter von zwei Jahren führten Amy und ihr drei Jahre älterer Bruder Alex kleine Shows im Familienkreis auf. Amys erklärtes Ziel war es, lauter als Alex zu singen. Das gelang ihr meist mühelos, denn sie hatte nicht nur eine große Ausdauer, sondern auch eine große Klappe. „Amy war schon als Kleinkind laut, wild, verängstigt und empfindlich. Sie war voller Emotionen, manchmal bezaubernd, manchmal unerträglich,“ fasst Janis Winehouse jene berüchtigten Eigenschaften ihrer weltberühmten Tochter zusammen, die der Öffentlichkeit so wohlvertraut sind. Amys eigenwilliger Charakter prägte auch ihren frechen, oft dramatischen Soul-Pop. Die Sängerin mit der auffälligen Bienenkorb-Frisur nahm ihre Zeitgenoss:innen einfach mit in ihre ever changing moods – und meist wurde einem schon beim bloßen Zusehen (und beim Lesen der täglichen Skandal-Schlagzeilen) schwindelig.

Dabei war sie gut genug fürs Leben gerüstet, um auch einfach durch Talent zu überzeugen (wenn doch Begabung im neoliberalen Musikgeschäft nicht immer nur in Zusammenklang mit Skandal-News erkannt würde.) An der renommierten „Sylvia Young Theatre School“ wurde Amy in die Kunst des Singens, Performens und Songschreibens eingeweiht. Das Gitarrenspiel hatte Bruder Alex ihr beigebracht. Und sie wusste, dass eine packende Textzeile genauso wichtig ist wie eine kräftige Stimme. Aber je erfolgreicher Amy wurde, desto mehr fokussierten sich die Medien auf ihre „Ausnahmestimme“, die sie in einem tragischen Gegensatz zu den Drogen- und Alkohol-Abstürzen der Sängerin sahen.

 

BACK TO BLACK UND EIN PARADIGMENWECHSEL IM STIMMKLANG

Amys besondere Fähigkeit zur mitreißenden Songzeile, oder auch die Tatsache, dass sie ihre Lieder selbst auf der Gitarre komponieren konnte, nötigte den Leuten nicht annähernd so viel Anerkennung ab wie ihre dunkle Jazz-Stimme – die Mitte der Nullerjahre besonders viel Respekt erfuhr, weil sie das beste Beispiel für einen Paradigmenwechsel im weiblichen Stimmklang war. Je mehr gesellschaftliche Emanzipation man Frauen zugesteht, desto männlicher und tiefer darf ihre Gesangsstimme nämlich sein. Amy löste das „Sopran-Ideal“ ( der schreiend-hohe Klang der Madonna und Disco-Ära) ab, und bezauberte stattdessen mit einer atemberaubend-angenehmen Melange aus viel Brust und auch ein wenig Kopf-Stimme, die als viel weiser und erwachsener gelesen wurde als die hellen Stimmen des Pop. Bezeichnenderweise firmieren dunkle Frauenstimmen ja auch unter dem Begriff „Alt.“ Die Zeitenwende im Gesangs-Sound macht es daher verzeihbar, dass ihre sonstigen Talente bei den Journalistinnen und Journalisten nicht so hoch im Kurs standen wie ihr Gesang. Es war eben noch neu, dass Frauen so selbstverständlich dunkel sangen wie Amy.

Deshalb hier ein kleiner Exkurs zu ihrem programmatischen Song „Back to Black“, bevor ich dann wieder auf den Fortgang ihrer Karriere zurückkomme:

Amy Winehouse – Back To Black – YouTube  

„Back to Black“, das war nicht nur der Titeltrack ihres Legenden- Albums, es war auch so etwas wie die Losung zur Zeit. Kein Wunder also, dass sie es am Ende dieser Schmachtballade gleich siebenmal in unterschiedlichen Betonungen resonieren ließ: „Black“, wie sie es sang und meinte, das stand für: ihre Liebe zu Schwarzer Musik. Amy spielte vor allem mit Schwarzen männlichen Musikern ihre eigenen und die Stücke  weiblicher Schwarzer Jazz/Soul-Musikerinnen. Eines dieser schön-gehauchten „Blacks“ stand aber auch für ihre Rückkehr zum Vinyl; zur schwarzen Rille, die sie ebenfalls zelebrierte, angezogen von der Girlgroup-Ära der 1960er Jahre. Dann standen diese gehauchten „Blacks“ natürlich für etwas Psychisches: Blackout und Depression, ihre Leib-und-Magen-Themen, und davon abgeleitet, leicht silbenverdreht, für den Mann, der ja überhaupt der Grund für das alles war: Ein weißer Dude namens Blake sollte zurückkommen, wenn er das Album hörte. In „Back to Black“ war „Back to Blake“ hineingeschmuggelt. Ein Album also, wie ein perfekter Liebesbeweis für einen charmanten, drogensüchtigen Herumtreiber und, of course, für alle lebenshungrigen Addicts in Camden Town. Vielleicht standen der Titel und der Titeltrack auch für das hedonistische Zelebrieren eines starken, lebendigen Judentums und für die gleichzeitige Trauer in ihrem Herzen in Anbetracht der Katastrophe, die die Juden durch die deutschen Faschisten erlebt hatten. Ich dachte mir manchmal beim Hören, dass sie es für ihre jüdisches Familie geschrieben haben könnte, vielleicht auch für ihre jüdische Identität? „Sie hat die jüdische Tradition er- und gelebt, etwa wenn sie bei ihrer Großmutter im Londoner East End den Sabbat gefeiert hat“, berichtet die Museumsdirektorin Danielle Spera, die 2014 die Ausstellung „Amy Winehouse: Ein Familienporträt“ im Jüdischen Museum in Wien geleitet hat.

THE BOULEVARD OF BROKEN DREAMS

Zurück zu Amys Werdegang: Schon die Texte auf ihrem Debüt-Album Frank (2003) liefen auf die Auseinandersetzung mit einem Ex-Freund hinaus. Auch obszöne Zeilen ließen aufhorchen. Sie war jung, klang alt, blieb dabei aber „das Mädchen von nebenan.“ Amy war kein Stimmchen, sie war eine Stimme, in jeder Hinsicht! Aber leider auch suchtanfällig. Mit Anfang 20 rauchte sie Joints und starke Filterzigaretten „während die meisten Jugendlichen damals ‚Light‘-Zigaretten pafften“, wie Mitch Winehouse in seiner offiziellen Biographie „Meine Tochter Amy“ (Edel Books, 2012) treffend bemerkt. Die Leute um sie herum begriffen schnell, dass Amy immer einen Schritt weiter gehen musste, als ihre Schulfreundinnen, aber sie konnten ihr letztendlich nicht aus dem Abgrund ihrer zahlreichen Süchte helfen.

Der internationale Durchbruch kam drei Jahre nach Frank: Das Album Back to Black schoss in den Hitparaden nach oben und hat sich bis heute über 20 Millionen Mal verkauft. Gemeinsam mit dem New Yorker Produzenten und DJ Mark Ronson erfand sie darauf den Girl-Group-Sound neu. Anstatt auf Jazz setzte sie auf erhabenen Retro-Soul. Vom Erfolg des Albums angezogen kam Blake Fielder Civil tatsächlich zurück, und teilte, so will es die Legende, fortan nicht nur das Bett, sondern auch die harten Drogen mit ihr. Die junge Soul-Sängerin aus Camden Town wurde oft in unvorteilhaften Posen von der Presse abgelichtet, und zum ersten ungeschönten Pop-Star der YouTube-Ära,  circa fünf Jahre vor dem Emanzipations-Knall der Sozialen Medien. Wir reden über eine Zeit, als die Boulevard-Presse es sich noch leisten konnte, von ihren Stars vor allem nur die höllischen Abstürze zu filmen. Popstars durften sich noch nicht, wie heute zum Beispiel Lady Gaga oder Taylor Swift, im Norweger Pullover auf dem Sofa ausruhen und fünf Kilo zunehmen, wenn sie krank waren (und Popstars bleiben wollten.) Amy performte ihr Album in real life, auf den Straßen von Camden, nicht auf Instagram. Das sprach sich auch in andere Hauptstädte herum. Auf dem Höhepunkt des Winehouse -Hypes gab es Mädchen, die wie Amy, und Jungs, die wie Blake in den Clubs von Berlin-Mitte herum saßen und turtelten. Auch ich fand meinen Blake: Er trug ein rotes Halstuch mit weißen Punkten wie Blitz-Kid-Blake, ein Jeans-Overall und einen schwarzen Blake-Hut, und er erzählte mir, dass er dabei war, als Amy Winehouse sich Heroin gespritzt hatte, in einem Londoner Club, in einem Nebenzimmer. Zum Glück, und weil ich ein Hypochonder bin, nahm ich seine Drogen nicht, sondern nur sein freches Lächeln und seinen roughen Sex…

Von dem Durchbruchs-Moment des Jahres 2006 gibt es mehrere Sichtweisen auf den frühen Tod der Sängerin mit 27 Jahren, an dem die Medien ihren Anteil hatten, so viel steht auf jeden Fall fest.

MAGERIDEALE

Man kann es tatsächlich feiern oder mindestens bemerkenswert finden, dass Amy die Hochglanz-Ära des Pop um Bilder erweiterte, die jeder Bildbearbeitung spotteten. Da war eine Frau, die zumindest teilweise darauf schiss, wie sie aussah. Was für eine Erleichterung! War das nicht auch ein Weg zu mehr weiblicher Selbst-Akzeptanz und Body Positivity? Andererseits beharrte genau diese Dekade ja auf einem unmenschlichen Schlankheits-Ideal, das viele Mädchen in Essstörungen trieb, und insbesondere prominente Frauen zu erpressen schien. Amy Winehouse schien zu glauben, wenn sie nur dünn ist und ihren ikonischen Look im Griff hat, dann wird es schon nicht so verwerflich sein, im Alkohol-Rausch oder beim Drogen-Nehmen abgelichtet zu werden. Sie war nicht mal beschämt, als z.B. ein Video von ihr auftauchte, in dem man sie Crack rauchen sah. „Was soll`s? Es glaubt doch sowieso jeder, dass ich Drogen nehme, Papa“, soll sie auf ihre unverblümte Art gesagt haben. Sie war eben doch auch ein geliebtes Kind, und viele liebten sie für ihre freche Selbst-Liebe. Sie genoss es auch ein wenig, dass man in ihrem Leben und in ihrem Werk blättern konnte wie in einem offenen Buch. Sie selber hatte sich ja schon früh ein Notizbuch zugelegt.

 

PIETÄT

Genauso viel Sinn macht aber auch die Medienkritik, die im Nachruf von Jonathan Scheiner anklingt. In der „Jüdischen Allgemeinen“ forderte der Journalist in der Woche nach ihrem Tod: „Pietät für Amy Winehouse“ und ließ seiner Wut freien Lauf: „Wer Amy Winehouse googelt, findet sie alle: die gesamte Menge ekelerregender Fotos der jüdischen Soul-Diva. Diese Bilder haben den Tod der Sängerin am vergangenen Samstag gewissermaßen vorweggenommen. Die Öffentlichkeit war vorbereitet, aber nicht mitfühlend. Vielmehr wurde eine kranke Frau zum medialen Abschuss freigegeben. Dabei haben diesmal in den Medien nicht nackte Tatsachen gezählt wie im Falle von Britney Spears, bei der man die diversen Spielarten ihrer Intimfrisur öffentlich bloßstellte. Bei Amy Winehouse ging es allein um die Zurschaustellung von Lächerlichkeit. Deren medizinische Ursachen in Form von Bulimie, manisch-depressiver Störung und Lungenemphysem infolge von überhöhtem Drogenkonsum spielten in der Berichterstattung keine Rolle. Amy schielend im Vollrausch, Amy mit Koks in der Nase oder Amy, deren Dekolleté verrutscht war. Nach ihrem Tod zu sagen, das interessiere niemanden, ist wohlfeil.“

Tragen wir Fans auch eine Mitschuld, war auch eine gehörige Portion Exotismus dabei, so auf die Wunden der Winehouse zu starren? Wir Amy-Ultras liebten sie auch dann noch, wenn sie noch so strange und drogenopferelend aussah: Haben wir das Bild eines jüdischen Mädchen geliebt, das zur Karikatur seiner Selbst gemacht wurde?

Amys cartoonartiges Erscheinungsbild – die blumigen Cocktailkleidchen, die großen Augen, der winzige Körper – vielleicht hätte man das alles nicht auch noch als Lifestyle-Feminismus abfeiern dürfen? Haben wir begriffen, welchen Preis sie für ihren Erfolg zahlte?

In dem britischen Dokumentarfilm „Amy“ (Regie: Asif Kapadia), gibt es eine zentrale Idee/Forderung: Freundinnen von Amy, die namentlich nicht genannt werden wollen, erheben schwere Vorwürfe gegen Mitch Winehouse. Er hätte sie „aus dem Musikgeschäft“ herausnehmen müssen, beharren sie. Sie sind sich sicher: Das wäre Amys einzige Chance gewesen. Meine vollste Sympathie für diesen Gedanken und vor allem für die verzweifelten Freundinnen, die ihr ja letztlich auch nicht helfen konnten. Andererseits möchte man in dieser Frage nicht in der Haut von Mitch Winehouse stecken. Denn wie hätte er seine berühmte und schwerkranke Tochter „aus dem Musikgeschäft herausnehmen sollen“ – wenn er doch genau wusste, dass die Vorfreude darauf, wieder ein neues Album aufzunehmen, zu Amys Lebenselixier in diesen trüben Tagen zählte? Klar, man kriegt das Mädchen aus dem Musikgeschäft, aber auch die Musik aus dem Mädchen? Die Winehouse, eine Hobby-Sängerin? Sie hat seit ihrer Frühkindheit gesungen und schon mit zehn Jahren ihre ersten Lieder geschrieben. Sie hätte niemals damit aufgehört, das wusste Mitch Winehouse wohl am besten von allen. In der Welt von heute, wo sich ein schlechtes Image über Nacht durch einen besonders klugen Social-Media-Eintrag korrigieren lässt, wäre Amy Winehouse aber besser aufgestellt gewesen, da bin ich mir sicher.

Amy Winehouse – Rehab – YouTube 

 

NO, NO, NO

 “They tried to make me go to rehab, but I said: No, No, No.“ Diese drei trotzigen No`s hintereinander sind ja sogar noch berühmter, als die siebenfachen „Blacks“. Die Verweigerung jeglicher Rehabilitation, jeglicher Vernunft, wurde ihr zum Verhängnis, so die Legende. In Wirklichkeit, so erzählt es Mich Winehouse in „Meine Tochter Amy“, war sie durchaus zu Entzugskuren bereit. Sie sagte nicht immer nur „No, No, No“

zu ihren Ärzten. Sie wollte leben, überleben. Amy Winhhouse kämpfte sich durch zahlreiche Entziehungskuren.

 

Am 23. Juli 2011 starb sie mit 4,16 mg Promille im Blut an einer Alkoholvergiftung, nachdem sie drei Wochen clean gewesen war. Und sie starb auch, wie ihre Ärztin und ihr Bruder meinen, an den Folgen ihrer Ess-Brecht-Sucht. „Ohne die Bulimie wäre ihr Körper stärker gewesen.“

P.S.

Ich hatte immer schon einen mitfühlenden Blick auf Amy Winehouse: Wir Hardcore- Fans identifizierten uns ja gerade mit ihren psychischen Krankheiten und ihrem lässigen Umgang damit. Zu einer Zeit, versteht sich, als „Mental Health“ noch kein zentrales Thema für die Subkultur oder den Mainstream war.

Kann es zwangsläufig nicht gut gehen, wenn Musik, Leben, Öffentlichkeit, Kommerz und Liebe eine authentische Einheit bilden?

Wichtiger als das Verdammen eines authentischen Rock`n Roll-Lebens und wichtiger als diese Schuldzuweisungen gegen die männlichen Angehörigen (Mitch Winehouse, Blake Fielder Civil) erscheint mir eine echte Sensibilisierung für Themen wie antisemitische, sexistische und ableistische Stereotype. Auch die Entscheider:innen in den Medien müssen sich darüber Gedanken machen, anstatt nur Auflage und Klickzahlen im Blick zu haben.

 

LOVE IS A LOSING GAME

Dabei möchte ich am Ende dieses Textes nochmal auf das Anfangszitat  zurückzukommen; dieses Hollywood-trächtige von der 12-jährigen Amy, die die Welt für fünf Minuten ihre Probleme vergessen lassen wollte. Well, bei diesem Wunsch hat sie sich wohl ein bisschen unterschätzt:

Amy Winehouse war viel zu toll, zu aufrichtig, zu begabt und euphorisiert, zu sehr love-addict und zu zerrissen, zu sehr „Herzmensch“, und ihre Lieder viel zu stark, als dass man darüber sein eigenen Probleme hätte vergessen können! Amys Stimme, ihre Lyrics, und ihre ungekünstelte Art und Weise ein Star zu sein – sie haben uns doch überhaupt erst unsere Probleme vor Augen geführt!

Vor „Love Is A Losing Game“ war mir nicht wirklich klar gewesen, dass die Liebe ein Spiel ist, das man nicht gewinnen kann, außer vielleicht, man akzeptiert, dass es ein Losing Game ist, wo der Pride auf jeden Fall schonmal erschüttert wird. Bei jeder anderen Sängerin hätte so ein Songtext aber allenfalls dazu geführt, das Blatt auf dem Kalender umzudrehen. Bei ihr machte man sich stattdessen selber auf die Suche …

Amy Winehouse hat uns nicht viele Songs hinterlassen, nicht mal ein Dutzend richtig starker Tracks, vielleicht nur eine Handvoll wirklich wichtiger (das schwungvolle „Valerie“ vom ersten Album nicht zu vergessen). Aber jeder einzelne hat uns so heftig berührt, dass wir danach nicht mehr dieselben waren wie zuvor. Und auch unsere Sorgen haben sich dank ihrer Stimme in etwas Größeres verwandelt, in etwas, das man beinahe wieder lieb haben konnte.

Und ja, wir hätten auch lieber auf diese persönlichen, ergreifenden Songs verzichtet, wenn sie dafür noch leben würde. Wir verspüren nicht mehr die alte Lust, sie zu hören und jedes Mal, wenn wir sie hören, weinen wir auch um Dich.

REST IN GIRLPOWER!

 

Über diesen Text:

Eine kürzere Fassung dieses Essay erschien 2016 im “Berühmte Frauen, Kalender 2016” (suhrkamp)

Der Autor und Musiker Kristof Schreuf mochte den Text offensichtlich; er schrieb über eine Lesung  am 01.07.2022 im “neues deutschland“:

“Den Schlusspunkt des unterhaltsamen, anregungsgreichen Abends setzt dann Kersty Grether. »Ich schreibe aus zwei Gründen über Musik«, erklärt sie, während sie mit dem Mikrophon über die Bühne flaniert. »Zum einen, weil es Künstlerinnen gibt, über die noch nicht geschrieben wurde oder die noch nicht bekannt sind. Zum anderen über Künstlerinnen, über die vermeintlich alles gesagt wurde. Denn das weckt meinen Ehrgeiz, mir deren Werk nochmal anzuhören und 42 bis 178 weitere Aspekte darin zu entdecken, die ein völlig neues Bild ergeben.«

Dass dieses neue Bild den Unterkiefer des männlichen Betrachters beziehungsweise Lesers herunterfallen lassen kann, führt Grether prompt vor, indem sie ihren Essay zu der verstorbenen Sängerin Amy Winehouse vorliest. Grether zeigt darin anschaulich, dass Musikkritiker zwar enthusiastisch und ausgiebig Winehouses Stimme bejubelten. Aber die vielen Komplimente für ihre Intonation sollten nicht zuletzt auch davon ablenken, dass Winehouse sich mit ihrer akustischen Gitarre hinsetzte und ihre Stücke selbst schrieb. Die Songwriterin Winehouse fanden Kommentator*innen offenbar zu begabt, um sie zu erwähnen. Dass sie nur, wenn auch eindrucksvoll, weitergab, was doch wahrscheinlich andere ihr an Akkorden, Arrangements und nicht zuletzt an Worten soufflierten, passte halt einfach besser zum tradierten Rezeptionsnarrativ.”