Ein Engel an meiner Tafel
Die Protagonisten im neuen Nick-Hornby-Roman ›A Long Way Down‹ – sie haben sich gerade wechselseitig davor gerettet, vom Dach eines Londoner Hochhauses zu springen – denken sich gemeinsam ein Pop-Märchen aus. »Da war dieser Engel, sehr hübsch, aber ohne Flügel, der uns vor dem Selbstmord bewahrt hat«, erzählen sie der Boulevardpresse. Der Engel soll wie ein Hollywood-Schauspieler ausgesehen und ihnen sogar eine Message mitgegeben haben: »Springt nicht, denn Krieg ist dumm« oder so was in der Art. Nur synchron wiedergeben können die geretteten Selbstmörder ihre erfundene Geschichte nicht. »Welcher Engel? Ich hab keinen gesehen«, poltert Jess in die Kamera eines Kabelsenders. An Engel glauben, so was macht man nicht, wenn man gerettet wurde und ein cooler Teenager ist. Für solche Fälle gibt es schließlich Goldfrapp.
Schlaflos in Saus und Braus
Das britische Duo um die goldgelockte Alison Goldfrapp veröffentlicht in diesen Tagen sein drittes Album ›Supernatural‹. Das scheint irgendwo im Himmel entstanden zu sein, um sich von dort mit den bunten Sternen der Nachtclubs zu paaren. Es ist wieder diese sanfte, einlullende Mischung aus Electro-Pop und Glam-Rock. Der Sound luzider Geheimnisse, die man gar nicht genauer ergründen will. Im Goldfrapp-Himmel gibt es keine Kriege.
›Time Out From The World‹ nimmt sich eine schöne After-Work-Auszeit von der Welt. Wie Alisons ätherische Stimme darauf das Pathos aller Erdenbürger verschluckt hat, um sogleich von schwebenden Computer-Harfen zerpflückt zu werden und in pathetische Dreiklang-Dimensionen fortzuschweben, ist überirdisch.
Ein Song wie ein Turmbau zu Babel. Kontrastiert vom Planeten des Glam-Rock. Wenn Goldfrapp ›Ooh La La‹ singen, dann wie discosexy Romantiker, die von Glam-Rock weniger die Ekstase wollen als vielmehr die detailverliebte Extravaganz und dabei die Patina dieses geschichtsträchtigen Phänomens polieren. Die Oberfläche von der Oberfläche. Denn das hölzern-französelnde der ›Ooh La La‹-Single ist Programm: Goldfrapp geben lieber den großen Connaisseur als den kleinen Verschwörer, die Geste triumphiert über das Gestern. »Das Stück ist maßgeblich von T. Rex beeinflußt« sagen sie, und machen daraus gut gemachte Tanzmusik – und man verliert beinahe die Abscheu vor den Spielarten des Easy Listening. Fahrstuhl-Musik. Und warum eigentlich nicht?
Musik für Orte, wo’s schnell rauf und schnell wieder runter geht, kann so grundfalsch nicht sein. Oder man nimmt doch das Treppenhaus. Gerade wenn man die Nick-Hornby-Lektüre noch im Kopf hat – und mit ihr diese 11. September-Assoziation. Weit hergeholt? Klar. Aber man muß beim Goldfrapp-Hören hin und wieder auch mal an die wirkliche Welt denken dürfen. Sonst fühlt man sich so schlaflos in Saus und Braus, wenn ihr versteht, was ich meine.
Der Engel trägt schwarz
Goldfrapp wollen nicht mit der wirklichen Welt zusammenfallen und suchen sich gerade deshalb die schönsten Flächen auf der Landkarte aus. »Wir haben eine Art elektronische Glam-Verbindung zwischen Berlin, New York und dem nordöstlichen Sommerset geschaffen«, verkünden sie stolz in ihrem Info. Alison und Will Gregory wohnen zusammen in einem romantischen Häuschen auf dem Lande, wo sie ein eigenes Studio haben und jeden Einfall sofort aufnehmen können. Und das heißt in ihrem Fall: Sie sliden in, sie steigen ein, sie fliegen los, sie experimentieren.
»Warum Glam-Rock?«
Alison Goldfrapp: »Was mich an Glam-Rock interessiert, ist der spezielle Umgang mit Vocals und Drumsound.«
»Mit Glam-Rock verbindet sich auch ein bestimmter Lifeystyle …«
Alison Goldfrapp: »Hm. Mich fasziniert daran, daß T. Rex’ Art zu schreiben mit unserer korrespondierte …«
Goldfrapps Art-Konzept – der große Auftritt, die traumhafte Website. Die Videos und Farben, der Kitsch.
»Ja, genau. Es muß colourful sein.«
Klar ist Goldfrapp goldener als es glänzt. Konfrontiert mit Alison Goldfrapp, dämmert einem eine altbekannte Weisheit: Künstler machen in der Kunst offenbar genau das, was sie im wirklichen Leben gerade nicht tun.
Der Engel trägt schwarz. Schwarze Jeans, schwarzes Shirt und ist überhaupt so verschlossen und unenergetisch, daß ich zuerst dachte, sie sei die Promoterin, die jetzt mit mir auf die Sängerin von Goldfrapp wartet. Etwas verstörend auch die große Sonnenbrille, die Allisons unnahbare Erscheinung abrundete. Den Spuren von etwaiger Übernächtigung hätte man ja auch mit einem spannenden raffinierten Make-up beikommen können. Für mich hatte es zugegebenermaßen etwas Beklemmendes, ihr beim Gespräch nicht in die Augen schauen zu können. Das war nicht die Aura einer Diva. Oder wenn, dann die einer sehr englisch-exzentrischen oder einer sehr internationalen Super-Diva, der schon alles komplett egal ist. Mit Björk wird sie ja gerne verglichen, sogar mit Madonna. Aber wahrscheinlich ist sie einfach nur ein sympathischer Nerd, und sympathische Nerds sind so campy wie Gespenster.
Auffallend jedenfalls, daß Alison Goldfrapp ständig davon redet, wie extrem wichtig das visuelle Image ist, ihre Person aber komplett heraushält. »Aber schau dir mal das neue Video an!« sagte sie. Und ich komme plötzlich ins Grübeln: Vielleicht ist das ja die feine englische Art (die auch Shirley Manson in Interviews so gut beherrscht), die Differenz zwischen dem eigenen Medienbild und dem Menschen, der man ist, klar zu machen. Oder um in den Bildern von Nick Hornby zu bleiben: Da war gar kein Engel. Denn Engel sehen nicht aus wie Hollywood-Schauspieler. Aber sie können fliegen. Und lebensmüde Leute vorm Absprung bewahren.
(Kerstin, INTRO, 2005)