Schneeflöckchen und Sommerkleider

von Kerstin

Mittwoch, 28. März

Morgens

Ich liebe es an einem Tag wie diesem, Ende März, aufzuwachen – und draußen rieselt fröhlich der Schnee. So als ob die drei letzten Monate gar nicht existiert hätten oder als wäre es wieder Ende Dezember und Weihnachten grad vorbei; der Winter noch unschuldig und der Schnee sieht aus als wäre er nur minimal kalt. Besonders toll ist so ein Wetter-Backlash auf 1 Grad runter, wenn man beim Aufwachen unauffällig die Kleiderstange vor dem Bett gemustert hat, und ein euphorischer Gedanke aufgeblitzt ist: also heute könnte man doch mal… zumindest einen Rock anziehen, den Leder-Rock, wenn nicht sogar… so ein Sommerkleid! Irgendwas mit Strumpfhosen, jetzt ist doch Frühling.

Nee, leider nicht“, murmeln da die Schneeflocken: „Zieh die dunkelblaue Jeans und den grauen Sweater an und mecker nicht rum – du kannst ihn ja vorne am Dekolletee ein bisschen aufknöpfen.“ Oh, vielen Dank, das ist aber wirklich großzügig von Dir! Dabei will ich nur endlich meine Sommerkleider tragen, die vor mir auf der Kleiderstange hängen, und mein Bett bewachen, wie früher, als Kind, die Puppen. Die Sommerkleider haben die Puppen ersetzt – und als Teenager hatte ich irre viel Stofftiere, weil ich mir beweisen wollte, dass ich nicht mehr im Puppenalter bin. „Dann spiel doch jetzt wieder mit Puppen“, schlagen die Schneeflocken vor, „oder mit Stofftieren, bis der Frühling kommt.“

Jetzt reicht`s aber. Dann doch lieber ein richtiger Hund. Und ein richtiger Frühling. Überhaupt: wann wird mein Leben endlich RICHTIG? Am besten jetzt. Du weiß doch: im Moment leben. Fang sofort damit an, sonst geht das nicht. Man soll sofort anfangen mit dem richtigen Leben.

Und die Puppen, und die Stofftiere, und die Sommerkleider? „Die kannst du später nachholen, die laufen ja nicht weg.“

Mittags

Im Lieblings-Café schmeckt alles wie immer: besser, wie es besser nicht geht. Es ist ja nicht so, dass es in Prenzlauer Berg besonders viele Cafés mit besonders gutem Cappuccino gibt. Zwar schmeckt der hier im Schnitt ein bisschen besser als in anderen Vierteln, denen nicht so ein Latte- Macciato-Image vorauseilt – und auf jeden Fall besser als in Leipzig. Aber eigentlich gibt es auch hier nur ein, maximal zwei Cafes, wo er wirklich außerordentlich wahnsinnig perfekt schmeckt. Wie genau außerordentlichperfekt schmeckt? Schwer zu sagen! Wenn ich Gourmet-Kritikerin wäre, würde ich verrückt werden. Musik beschreiben, okay, klar, einfach, geht schon. Aber Essen oder Trinken? Also auf jeden Fall ist dieser Cappuccino unfassbar stark und unfassbar cremig zugleich, da ist keine Luft mehr in der Milch, das geht alles voll auf, da ist nichts mehr wässrig. Gibt`s also auch in Prenzlauer Berg nur zweimal. Wenn man Starbucks und Cafe Einstein nicht mitzählt. Und Starbucks und Café Einstein darf man nicht mitzählen, wegen Gentrifizierung und böse und so, und support your local coffee dealer.

Jetzt ist grad D. gekommen um mit mir über das neue Maike-Albumcover zu reden. Sie will da mal was versuchen, die türkise Umrandung des geheimnisvollen Fotos soll zur Grundlage des neuen Schriftbilds genommen werden. D.`s Haare sind gewachsen, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen haben, nach dem Genie-Vol-2- Abend. Das Grün ist mitgewachsen, sie lacht ihr schelmisches D.-Lachen. Wir reden über wissenschaftliche Hausarbeiten. Ich erzähle ihr von unserem neuen Blog, und dass ich einfach so schreibe, worauf ich Bock hab auf „Achtsamkeit und Alltag“, und dass ich großen Respekt habe vor wissenschaftlichen Hausarbeiten und echt froh bin, dass ich das nicht machen muss, Wissenschaft. Das kam jetzt aber, glaub ich, nicht so gut an, weil D. sagt sie hat schon Bock drauf sich hin und wieder mit ihrem Hirn zu beschäftigen. Recht hat sie!

Ich will aber lieber mit dem Körper schreiben, weil die Gedanken dann umsonst sind, also umso freier. Wer Indie ist, muss Sommerloch und Weihnachtsgeschäft ignorieren. Wir haben beschlossen gar nicht erst auf äußere Zeiten zu achten, nur noch auf interne. Wir veröffentlichen einfach, wann wir wollen, sonst könnte man nur im Herbst und im Frühjahr Platten veröffentlichen – und Scheiß auf Herbst und Frühjahr. Sandra redet derweil in einem ziemlichen Fachchinesisch über Soll und-Ist-Stände, Sonstige und Sachkosten. Sie hat sich über die Wintermonate in so eine Art Buchhalterin verwandelt. Sie hat es heute auch mit der Perfektion. Ich fühle mich ein bisschen schuldig, weil ich ihr bei der Buchhaltung nicht helfe kann. Aber dann ist das Schuld-Gefühl auch schon wieder vorbei und ich freue mich, dass sie sagt: „Das ist alles komplett perfekt, ich geb jetzt hier eine perfekte Abrechnung ab.“ Schön so was, und ich trink meinen perfekten Kaffee zu Ende.

Abends

Bin gerade Mithörerin eines neuen Album-Streams. (Name darf noch nicht verraten werden, weil Album noch nicht veröffentlicht ist.) Aber den Kopf darf ich mir schon darüber zerbrechen bzw. das Herz, oder was auch immer es ist, was einen da so hineinzieht in die Musik. Man hört Musik wahrscheinlich eher so mit den feinstofflichen Anteilen des Körpers. Deshalb können Menschen sich ja auch nur schwer auf eine Musik einigen. Die Musik hier klingt wie eine Kurzgeschichte, die in einer anderen Zeit spielt, vielleicht in den Siebzigern, weshalb man die Feinheiten auch nicht mehr so ganz begreift, auch mit dem feinstofflichen Körper nicht. Oder wie Fleetwood Mac als One-Woman-Band. Der Gesang dieser Songwriterin ist so geschliffen und perfekt, dass ich es ausnahmsweise mal Scheiße finde, wenn Frauen* etwas so „Perfektes“ machen. Als ob sie sich und ihre Stimme so tief ins Alternative Country-Genre eingegraben hätte dass nichts mehr von ihr selbst übriggeblieben ist. Die ganze Intonation ist mir vollkommen fremd. Kräftig und stark, die Stimme, aber so what? Ich bin echt selten der Meinung, dass eine Sängerin ZU GUT singt, zumal, wenn sie auf eine so tolle Art Americana und Folk mischt und dabei experimentiert. Oder sind die Melodien nicht gut genug? Ich komm nicht drüber hinweg, wie absolut arg mir der Gesang nicht gefällt. Wahrscheinlich fehlt einfach das Gefühl. Vielleicht war sie sich dessen auch zu sicher. Als würde man eine Kurzgeschichte vom Blatt ablesen und versuchen das alles ganz toll zu betonen, aber eben ohne es irgendwem zu erzählen, mitzuteilen. Als sollten die Worte sich von selbst aufstellen, sich von selbst erhören. Es geht kein Weg dran vorbei: wer sich beim Singen kein Gegenüber vorstellt, und sei es auch nur einen Saal voller Leute, verspielt seinen inneren Schatz. Und dann nutzt der beste Gesang der Welt nichts mehr. Schade.