“Sharper than a needle!”
Lisa Simpson und Stephanie Müller vom Nähmaschinenduett haben am Samstag in der Berghain-Kantine ein erdbeerfarbenes “Genie-Kleid” an Mascha Alechina / Pussy Riot überreicht.
von Kerstin
„Wer nicht kommt, verpasst sein Leben” hatte das kaput-Mag in seiner Vorankündigung zu unserem IchBraucheEineGenie-Abend in der Berghain-Kantine geschrieben. Recht hatten sie!
Und der Höhepunkt des Abends war zweifellos der Moment, als Lisa und Steffi Mascha Alechina ein selbstentworfenes Kleid überreichten – und Mascha dann, nach einer berührenden Lesung, in der wir viel über den Wert der Unangepasstheit in autoritären Systemen gehört hatten – freudig-überrascht das Kleid entgegen nahm und noch auf der Bühne anzog, um dann, zusammen mit dem Nähmaschinenduett aus dem Kleid heraus zu musizieren!
Es war eine krönende Feier, ein echtes Genie-Moment – im Jahrzehnt der rebellischen Frauen.
Ich muss ganz ehrlich sagen: ich war sprachlos. Und das passiert mir selten. Sehr selten.
Als ich 2012 das YouTube-Video vom Pussy-Riot-Gebet in der Moskauer Erlöser Kathedrale sah, war ich auch für einige Sekunden oder Minuten sprachlos. Viel zu schön war dieses Punk-Gebet von feminismusflehenden und schreienden Frauen in himbeerroten, neongrünen und hellblauen Kleidern, die auf dem goldenen Altar tanzten, als bräuchte Russland sofort eine Erneuerung barmherziger Gedanken.
Aber zurück zu dem Kleid: es ist eins der schönsten Geschenke, das ich je gesehen habe, es kann nämlich Musik machen! Es kam mir so vor als ob unser Song „Lass uns Märchenwesen sein“ wahr geworden wäre. Was für ein Unikat! Es funktioniert wie ein Mischpult und ein kleiner Synthie. Aber lassen wir die genialen Ladies* vom Nähmaschinenduett selber ihre Kreation erklären:
„Mascha’s Worte sind treffsicher, stark, eben schärfer als eine Nadelspitze. Sie traut sich, die Stimme zu erheben, egal wie krass die Konsequenzen sein mögen. Das ist sehr inspirierend.“
Sagt Stephanie Müller. Deshalb hat sie auf der Vorderseite des Kleids einen Kaktus mit spitzen Nadeln aufgemalt – der Kaktus ist auch Instrument beim Nähmaschinenduett. Neben der Kaktusmalerei hat sie den Schriftzug “Sharper Than A Needle” eingestickt. Lisa hat das Kleid angefertigt. Die Drähte und die Platine sind direkt auf das Kleid aufgenäht.
Von Stephanie gibt es den passenden “Adapter” dazu. In einem anschließenden E-Mail-Interview gibt die Künstlerin weitere Einblicke:
„Es ist eine tragbare Malerei mit integrierter Sprechanlage. Das Unikat ist größenlos. Es passt verschiedensten Menschen. Ich mag es, wenn genormte Größen gesprengt werden. Genäht ist es wie eine Mischung aus Chefärzt*innenkittel und Putzkittel. Den Kontrast finde ich reizvoll. Ich wollte eine Art Anti-uniform nähen. Das Unikat lässt sich ganz leicht überziehen. Auf der Rückseite habe ich eine knallrote erdbeerfarbene Nähmaschine aufgemalt. Es ist keine Dinger Nähmaschine. Es ist eine Genie. Auch mutige Menschen schaffen nicht alles alleine. Eine Genie kann jede*r brauchen. Die aufgemalte Nähmaschine kann zum Beispiel mit ihrem Nähfuss und der heissen Nadel Platten abspielen.
Ich mag solche Umdeutungen und Zweckentfremdungen. Wenn die Nähmaschine aus dem Kontext der Fabrik- und Zwangsarbeit genommen wird oder aus dem Kontext feinsäuberlicher Zier- und Ausbesserungsarbeiten und stattdessen auf der Bühne trohnt und dröhnt und im Rampenlicht strahlt.
Bei beisspony nähe ich oft im Stehen. Lisa näht oft im Sitzen. Dieses Mal hatten wir beide ein Set aufgebaut, das etwas erhöht war, so dass wir im Stehen nähen konnten. Es war zunächst nicht so geplant. Es war eine Anregung vom Soundtechniker Dietmar, der in der Berghain Kantine arbeitet. Dadurch, dass wir die Maschinen höher als sonst aufgebaut hatten, kam dann die interessante Altar-Assoziation zu Stande. Solche zufälligen Momente, Gedanken freuen mich sehr!
Das Herzstück meiner Kleideridee für Mascha ist die integrierte Sprechanlage mit verlängerter Funkstrecke. Sie befindet sich an der Vorderseite des Kittels. Über Lisa’s Kleid kann Mascha bereits die eigene Stimme verstärken. Die verlängerbare Sprechanlage am Kittel ermöglicht es ihr, noch jemand anderem Gehör zu verschaffen. Mascha kann den Sprechanlagenadapter ganz einfach in Lisa’s Kleid einstöpseln und schon kann jemand gemeinsam mit ihr die Stimme erheben. Let’s do it together! Das funktioniert so, wie wenn eine Gitarre in den Verstärker per Klinkenkabel gesteckt wird.”
Auch Lisa erinnert sich mit viel Euphorie an den Abend:
„Der Abend war für mich auch auf jeden fall ein super super Highlight. Ich bin ja auch ein mega fan von pussy riot bin. es war magical 🙂 🙂
Ein bisschen was über mein Kleid: es ist ein Mixerkleid, es gibt 4 Iputs, ein Output, 2 Lautsprecher und ein Mikro eingebaut. Wenn man die Mikros an das Kleid anschließt, kommt schon Sound aus dem Kleid ( oder man kann es an eine Anlage anschließen). Die Idee war, dass die Mascha schon so eine powerfulle Stimme hat, und so viel zu sagen, dass ich ihr was geben wollte, dass es alles nochmal weiter verstärkt. Es hat auch etwas Partizipatives, sodass andere Leute auch Mikros einstecken können um sich lauter machen zu können.”
Einige Besucher*innen wollten wissen, ob da noch andere Instrumente am Start waren, oder ob sie diesen wundersamen Sound „nur“ den Nähmaschinen entlocken?
“Im Zentrum stehen unsere beiden Nähmaschinen. Die bieten alleine schon eine ganze Klangwelt. Mit selbstgebauten Kontaktmikros nehmen wir die Sounds ab. Unterfaden, Nähfuss, Handrad, etc. Alles hat seinen eigenen Klang. Beeinflusst wird unser Sound jedes Mal von den Dingen die wir nähen. Fester Jeansstoff klingt anders als Rohseide. Manchmal schalten wir Effektgeräte dazwischen – wie bei einer E-Gitarre. Dann kann es auch mal lärmiger und kratziger werden.
Lisa hat einen Mikrofonhut zusammen mit Guido Henneboehl gebaut. Ich habe mit Klaus Dietl ein Bügeleisen in einen Synthesizer umfunktioniert. Bei Berührung kann ich die Sounds modulieren. Klaus ist Teil der Mediendienst Leistungshölle in München. Mit ihm und anderen Freund*innen setze ich auch Filmprojekte um. Da war Lisa auch schon beteiligt. 🙂
Und zu den Sounds gibt es immer wieder Texte. Mir macht Songwriting Spass, auf Deutsch, English – manchmal ein bisschen Italienisch, Japanisch oder Türkisch. Was ich so aufschnappe. Am härtesten und direktesten sind wahrscheinlich die deutschsprachigen Texte. Lisa stimmt auf Portugiesisch dazu ein.”
In diesem Sinne: Lass uns Märchenwesen sein! Gerade dann, wenn Kleider Lieder machen.